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Die Klapsenchroniken

Eine Reise in den Wahnsinn und zurück.

oder: (k)ein Versuch eines Helden

Kapitel 1: jede Reise beginnt am tiefsten Punkt

Tag X ist jetzt zwei Wochen her. Tag X war der Tag an dem ich mir nach 10 Jahren Ruhe vor diesem Dämon wieder die Arme aufgeritzt habe.

der Schmerz unterbrach das Gedankenkarussel aus düsteren Erinnerungen, Ekel, Selbsthass und Selbstmordgedanken gerade eben so lange, dass ich fähig war zum sozialpsychiatrischen Dienst zu laufen um meine Sozialarbeiterin zu sprechen. Ich erklärte ihr, dass mein nächster Selbstmordversuch für mich nicht mehr eine Frage des „ob“, sondern nur noch eine Frage des „wann“ und „wie“ war.

Acht Stunden später bezog ich mein neues Bett. Raus durfte ich nur noch in Begleitung eines Freundes. Das Problem war nur: davon gab es nicht mehr viele, jetzt, wo sie beschlossen hatte, sich einmal quer durch den ehemals gemeinsamen Freundeskreis zu vögeln. Ich brauchte dringend Abstand, also blieben mir nur jene, die nicht auf ihre Offerten eingingen, und jene, die in einer festen Beziehung waren. Ich war in den vergangenen Monaten recht einsam geworden.

Also ging ich nur sehr selten raus. Doch ehrlich gesagt zog mich auch nichts nach draußen. Trotz des warmen, hellen Sommers war für mich die Welt trostlos, grau und kalt. Da war nichts mehr, das mir Hoffnung gab, kein Ziel,das meinem Leben einen Sinn gab. Ich war gefangen in einer grauen, dumpfen Wolke, die mir jeden Lebenswillen entzog. Alles woran ich denken konnte war: Ich will sterben.

14 Tage saß ich nun schon hier in dieser Klapse. Und wenn ich nicht gerade Sport mitmachen musste, oder malen, oder mit den anderen Bekloppten im Kreis sitzen um sich gegenseitig zu erzählen, wie scheiße es einem geht, dann rauchte ich. Und wenn ich nicht rauchte, dann weinte ich. Und wenn ich nicht weinte, dann dachte ich immer und immer wieder: Ich will sterben.

- und konnte deswegen nicht einschlafen. Also nahm ich einen Stift und schrieb dieses Lied:

  • Scheiße gebor'n
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In den folgenen Tagen spielte ich dieses Lied, wann immer es der verblüffend vollgestopfte Zeitplan der Psychiatrie es mir erlaubte. Ich sang es allein für mich im Garten der Psychiatrie (ich durte mittlerweile wieder alleine raus, weil ich sehr überzeugend log, dass das mit den Selbstmordgedanken dank der vielen Aktivitäten schon viel besser geworden sei).

Ich achtete peinlich genau darauf, dass niemand in der Nähe war und mich hören konnte, wenn ich es sang und ich sang es sehr leise und meist mit tränenerstickter Stimme.

Nie zuvor hatte ich solch ein trauriges Lied geschrieben. Und dennoch - irgendwie half es mir, mit meiner tottraurigen Stimmungslage besser zurecht zu kommen.

Es war als ließe ich mit jedem Ton ein klein wenig der dunklen Wolke entweichen, die mich so bleiernd niederdrückte.

Drei Tage später kam mich Matthias besuchen, einer der der wenigen Freunde, die mir noch geblieben waren. Wir spazierten durch den Garten, und ich hatte meine Gitarre mitgenommen. Wir setzten uns auf eine Bank im hinteren Teil des Gartens und ich klimmperte vor mich hin. Nur sehr zögerlich konnte ich mich überwinden ihn zu fragen, ob er mein Lied hören wollte.

Nie zuvor hatte ich jemand anderem eines meiner Lieder vorgespielt. Ich schämte mich für meine Stimme und mein viel zu schlechtes Gitarrenspiel. Und erst recht schämte ich mich für meine simple Lyrik. Als er einwilligte, zuzuhören, schlug mir mein Herz bis zum Hals.

Ich verspielte mich ständig, meine Stimme versagte, und mehr als einmal musste ich pausieren, weil ich in Tränen ausbrach und den Text nicht mehr lesen konnte.

Als ich endlich fertig war, nahm er mich in den Arm und behauptete, dass es ihm gefiel. Ich glaubte ihm kein Wort - wie sollte man einen Song der so traurig und düster war denn bitte „mögen“?

„Komm“ sagte er „wir schreiben noch einen Song!“

Nach einigem Zögern willigte ich ein und begann ein Riff zu spielen, das mir grad in den Sinn kam. Matthias fing an zu singen, und nach ein paar Versuchen hatten wir gemeinsam die erste Strophe des folgenen Lieds geschrieben, bevor er den Heimweg antreten musste. Noch am selben Abend schrieb ich das Lied zu Ende:

  • joker on the run
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Auch mit diesem Lied ging ich ein paar Tage schwanger. Ich änderte immer wieder den Rhytmus, die Akkordfolge, die Gesangsstimme, bis ich es einige Tage später meinem nächsten Besucher vorstellte. Dieses Mal war ich etwas selbstbewusster und schon ein wenig geübter darin, meine Stimme vor anderen Menschen erklingen zu lassen, und so gelang es mir tatsächlich, dass Lied in einem durch zu singen, und vor allem beinahe fehlerfrei zu spielen. Die letzten Zeilen des Liedes sang ich mit geschlossenen Augen und vielleicht sogar so laut, dass man es noch etwas weiter vorne im Garten hätte verstehen können.

Als ich meine Augen mit einem erleichterten Lächeln wieder öffnete während der letzte Akkord abklang, verstieg sich mein Freund zu einer völlig absurden Behauptung: „Du bist ein Künstler!“

Mit einer abwinkendnen Handbewegung wischte ich das Kompliment fort.

„Ja genau, total“ sagte ich und lenkte das Gespräch sofort auf ein anderes Thema, um davon abzulenken, dass ich rot wurde.

Doch der Satz ließ mich nicht los. „Ich - ein Künstler?! So ein Quatsch!“ sagte ich mir immer wieder. Und dennoch, die Vorstellung gefiel mir. Mehr noch, sie ließ sogar ein Gefühl in mir aufflammen, von dem ich überzeugt war, dass ich es nie wieder würde empfinden können - Hoffnung.

Ich klammerte mich an dieses Gefühl wie ein Ertrinkender auf hoher See an ein Stück Treibholz. Ich verliebte mich in die Vorstellung, durch die Innenstädte des Landes zu ziehen und den Menschen vorzusingen, um damit gerade genug Geld zu sammeln, dass ich mir etwas zu essen leisten und vielleicht alle paar Tage eine Nacht in einem Hotel verbringen könnte, um zu duschen. Die Vorstellung, ein Vagabundenleben zu führen, erschien mir plötzlich unheimlich romantisch und erstrebenswert.

Zugleich wich die Trauer und die Verzweiflung darüber, dass sie sich von mir getrennt hatte, immer mehr dem Gefühl der Wut und der Empörung darüber, in was für einer ungesunden Beziehung ich da eigentlich in den vergangenen acht Jahren ausgeharrt hatte.

Beides - diese Wut, gepaart mit dem Wunsch nach Flucht, Aufbruch und Neuanfang - verarbeitete ich in meinem nächsten Song mit dem passenden Namen „Na und?“

  • Na Und
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Nach gut einem Monat in der Pychiatrie war ich wieder stabil genug, um entlassen zu werden. Tatsächlich hatte der Sport, die Musiktherapie, die Ergotherapie und die therapeutischen Einzelgespräche zumindest bewirkt, dass ich nicht mehr ununterbrochen darüber nachdachte, wie ich meinem Leben möglichst schnell und schmerzfrei ein Ende setzen konnte.

Doch die Zuversicht und die Hoffnung hielten nicht lange an, als ich wieder zu Hause war. Denn an meinem Leben „draußen“ hatte sich ja nichts geändert. Noch immer lebte ich mit vier Männern in einer ziemlich dreckigen, dunklen und hellhörigen WG.

Und es trug nicht gerade zu Aufhellung meiner Gemütslage bei, dass ich mit anhören musste, wie sich im Zimmer direkt neben mir einer von ihnen langsam aber stetig zu Tode soff. Jeden Tag, wenn er gegen 16 Uhr von der Arbeit nach Hause kam, war sein erster Gang jener zum Kühlschrank, wo er sich sogleich ein Bier öffnete.

Bis zum Abend trank er täglich mindestens sechs davon, und spätestens nach dem vierten war er so voll, dass er sich nur noch lallend artikulieren konnte, und sich am nächsten Tag an nichts mehr erinnern konnte, was er ab diesem Zeitpunkt getan oder mit anderen besprochen hatte. Das hinderte ihn jedoch nicht daran, seine durch den Alkohol zusehens schlechter werdende Laune lautstark an seinen Mitbewohnern auszulassen.

Es machte mich unendlich traurig, diesem Menschen, den ich einst als einen meiner besten Freunde bezeichnet hätte, dabei zuzuschauen, wie er langsam an sich selbst zu Grunde ging.

Auch der Rest meiner WG war mir nur selten eine Stütze. Ich war mehr als enttäuscht darüber, dass sie mit meiner Ex-Freundin so umgingen, als wäre nie etwas passiert. Dass sie es als vollkommen normal und selbstverständlich ansahen, dass sie - jetzt, wo wir nicht mehr zusammen waren - so ziemlich mit jedem aus der Clique flirtete und rummachte. Ich nahm es ihnen übel, dass sie auf ihre Einladungen zu Parties, Weihnachtsfeiern etc. eingingen, ohne auch nur ein einziges Wort dazu zu sagen, dass es mindestens Mal äußerst rücksichtslos war, wie sie sich verhielt. Das es ihnen egal zu sein schien, dass ich an all den Aktivitäten unseres ehemals gemeinsamen Freundeskreises nicht mehr teilnehmen konnte, weil ich ihr aus meiner Sicht übergriffiges Verhalten nicht ertragen konnte - und sie seit wir getrennt waren auch sehr großen Wert darauf legte, auch möglichst überall dabei zu sein.

Sehr bald schloß ich mich nur noch in mein Zimmer ein und verließ es nur noch, um einkaufen zu gehen oder im Park um die Ecke Joints zu rauchen. Ich war nicht besser als mein alkoholsüchtiger Freund nebenan: Das erste was ich nach dem wachwerden tat, und das letzte, was ich tat, bevor ich schlafen ging, war zu kiffen. Ich war durchgängig high zu dieser Zeit, weil ich dachte, dass es mir hilft, meine Einsamkeit, meine Wut und meine Trauer besser zu ertragen.

Mein Zimmer war widerlich dreckig und stank, weil ich mich nicht aufraffen konnte zu putzen. Die Matratze, auf der ich den Großteil meines Tages verbrachte, lag ohne Gestell oder Lattenrost auf dem dreckigen und klebrigen Boden und schimmelte von unten durch. Dass alles war mir jedoch egal - ich war gefangen in meiner eigenen Welt, und die war jetzt wieder dunkel und düster und ohne Hoffnung. Mit einem großen Maß an Selbstverachtung schrieb ich über meinen Lebenswandel dieses Lied.

  • Maniac and Fool
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Kapitel 2: Aufbruch und Ausbruch

  • Nein
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Nach und nach wurde mir bewusst, dass es so nicht weitergehen konnte. Ich musste einsehen, dass ich hier nicht mehr hin gehörte. An meiner Wohn- und Lebenssituation musste sich irgendetwas grundlegend ändern, wenn ich nicht vor die Hunde gehen wollte.

Ich dachte wieder zurück an das Gefühl von Hoffnung, dass mir die Idee gab, ein Vagabunden-Leben zu führen. „Alles ist besser als hier“ dachte ich, und so begann ich tatsächlich, mich darauf vorzubereiten, einfach loszulaufen.

Ich investierte meine letzten Ersparnisse in einen Verstärker mit Akku, mit dem ich auf der Straße würde spielen können.

Und dann kam mir ein recht seltsamer Gedanke: Was, wenn du beim Spielen in irgendeiner Fußgängerzone deiner Traumfrau begegnest? Du brauchst ein Flirt-Lied! Du brauchst ein Lied, mit dem du sie verzaubern kannst! Und so entstand das nächste Lied…

  • Hey du
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Langsam war ich es leid, in Selbstmitleid zu versinken. Ich fragte mich, was außer der Sache mit meiner Ex-Freundin mich eigentlich so unglücklich machte. Irgendwann wurde mir klar: ich war nicht der einzige, der sich aufgegeben hatte. Eigentlich - dass wurde mir bewusst - hatte sich mein komplettes Umfeld inzwischen selbst aufgegeben. Die Menschen, die Freunde, mit denen ich einst im AStA saß, die mit mir gemeinsam Studiengebühren abgeschafft hatten und mit denen ich mehr als ein halbes Jahrzehnt für bessere Studienbedingungen, freie Bildung für alle, Klimaschutz, Antirassismus und nicht zuletzt für eine solidarischere Welt jenseits von Staat und Kapital gekämft hatte…

Sie alle waren mittlerweile allein darauf aus, irgendwie an ein gesichertes Beschäftigungsverhältnis und sichere Einkommensverhältnisse zu kommen. Die meisten von Ihnen arbeiteten mittlerweile in ein und dem selben Krankenhaus an der Pforte, in Wechselschicht, zum Mindestlohn. Der ständige Wechsel ihres Schlafrhythmus hatte gesundheitliche und seelische Spuren hinterlassen, sie waren ausgelaugt, zu müde um zu kämpfen oder zu träumen.

Ich wusste, ich würde nicht so enden wollen wie sie. Ich wusste, dass war nicht mein Weg. Doch ich verzweifelte fast beim Gedanken daran, sie zurückzulassen, in einer Situation, von der ich überzeugt war, dass sie ihnen nicht gut tut. Ich wollte ihnen so gerne die Hoffnung zurück geben, die Hoffnung darauf, dass ein anderes Leben möglich ist. Die Hoffnung, dass wir uns gemeinsam etwas neues, etwas besseres aufbauen können… Doch ich traute mich nicht mehr, sie darauf anzusprechen… Also schrieb ich dieses Lied.

  • so einfach
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Ein paar Wochen später bekam ich zufällig Wind von einem Projekt, dass sich anhörte, als hätte jemand meine Gedanken gelesen. Es ging darum, einen Kongress auf die Beine zu stellen, auf dem es um genau die Fragen gehen sollte, die mich jetzt seit einiger Zeit beschäftigten: Wie könnte eine Gesellschaft aussehen, die nicht allein darauf ausgerichtet ist, möglichst viel Profit zu erwirtschaften? Wie schaffen wir es, solidarischer und ökologischer zu wirtschaften und zu konsumieren, damit Menschen ihren Bedürfnissen und Fähigkeiten leben können, ohne sich kaputt zu machen?

Ich reiste zu einem der ersten Orga-Treffen - allein, denn von meinen Freunden konnte oder wollte trotz Nachfrage niemand mit dorthin kommen. Ob es anders gelaufen wäre, wenn ich den Mut gehabt hätte, ihnen das Lied von gerade vorzusingen?

Als ich dort ankam, war ich sofort total begeistert: Ich traf auf lauter wundervolle Menschen, in deren Augen genau jenes Feuer loderte, dass mich und meine Freunde einst auszeichnete. Das Feuer der Hoffnung und des Tatendrangs, das in Menschen brennt, die davon überzeugt sind, dass eine andere, schönere Welt möglich und nötig ist. Das Feuer, dass ich in meinen Augen und denen meiner Freunde so sehr vermisste.

Natürlich beschloß ich gleich, mit in die Organisation des Kongresses einzusteigen. Wir fanden einen coolen Namen für den Kongress: „Move Utopia - für eine Welt nach Bedürfnissen und Fähigkeiten“. Und um dem Motto auch gelich gerecht zu werden, kümmerte ich mich um den Aufgabenbereich, auf den ich am meisten Lust hatte: Ich war für das kulturelle Rahmenprogamm zuständig. Geil! Fünf Tage lang Auftritte organisieren, mit Künstlern abhängen und Musik machen. Und es sollte noch besser werden. Denn wir konnten den Kulturkosmos, also den Verein der das Fusion-Festival organisiert, davon überzeugen, dass der Kongress auf dem Fusion-Gelände stattfindet. Ein Traum - ich durfte meine eigene kleine Mini-Fusion organisieren!

Euphorisiert warf ich mich in die neue Aufgabe, denn es war viel zu tun, und es machte einen riesigen Spaß. Es war so wunderschön endlich wieder von Seelen umgeben zu sein, die Hoffnung in sich trugen. Es gab mir die Gelegenheit für so viele tiefe, erfüllende und aufbauende Begegnungen und Gespräche. Und es half mir, einen Teil von mir wieder zu finden, vom dem ich dachte, er sei für immer verschwunden. Der Teil von mir, der bereit ist zu kämpfen für eine bessere Welt. Grund genug, diesen wundervollen Menschen ein Lied zu widmen.

  • Funken teilen
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Auf meiner Reise begegnete ich einem weiteren besonderen Menschen: Kay. Es war als begegnete man einer alten Freundin, die man noch nie zuvor gesehen hatte, als sich unsere Blicke zum ersten Mal trafen. Die Gespräche in den Zigarettenpausen zwischen den - meist sehr anstrengenden - Orga-Plena für unser gemeinsamen Kongress fühlten sich sofort so an, als hätten wir schon vieles gemeinsam erlebt, dabei kannten wir uns erst seit einem halben Tag.

Als wir am zweiten Abend gemeinsam spazieren gingen bekam ich eine Ahnung davon, woher dieses Gefühl rührte. Wie ich war Kay schon als Kind Opfer sexuellen Missbrauchs geworden. Wahrscheinlich war sie damals von ihrem Peiniger noch gemäß ihres „biologischen“ Geschlechts als Junge wahrgenommen worden, und wir tauschten Erfahrungen darüber aus, wie schwer es auch und gerade als von der Gesellschaft als „männlich“ wahrgenommener Mensch ist, über solche Erlebnisse offen zu sprechen, und darüber, wie sie einen fast zwangsläufig dazu bringen, traditionelle Rollenzuschreibungen in Frage zu stellen. Denn selbst in vermeintlich aufgeklärten Kreisen herrscht bezüglich sexueller Übergriffe beinahe Konsens: Männer sind Täter, Frauen sind Opfer. Was also machte dass aus uns, wenn wir offensichtlich keine Täter, sondern Opfer waren?

Zumindest waren wir uns einig, dass wir dieser Rollenbeschreibung von „Mann“ nicht entsprechen wollen und werden. Kay hatte - nicht nur deswegen - beschlossen, dass sie diese Rolle nicht weiter spielen wollte. Insgeheim war ich neidisch darauf, dass sie den Mut dazu hatte, auch ihr Äusseres dem anzupassen, wie sie sich in ihrem Inneren fühlte. Ich selbst war noch nicht so weit, und ich weiß nicht ob ich es jemals sein werde oder sein will.

Dennoch brachte sie mich dazu, meine eigene sexuelle Identität grundsätzlicher in Frage zu stellen. Doch das lag nicht allein daran, das wir so befreiend offene Gespräche darüber führen konnten. Vielmehr bemerkte ich nach einigen Wochen, in denen wir uns zumindest an einem Wochenende im Monat trafen, dass da noch mehr war - ich hatte mich in sie verliebt. Es war nicht das erste Mal, dass ich mich in einen Menschen verliebt hatte, dem seine primären Geschlechtsmerkmale in unserer Gesellschaft meist zu der Bezeichnung „männlich“ verhalfen oder verurteilten. Doch es war das erste Mal, dass ich diese Gefühle für einen solchen Menschen zulassen konnte, ohne dass sie direkt von der Panik davor überlagert wurden, abermals gewaltsam penetriert zu werden.

Ist mensch jetzt eigentlich „Bi“, wenn sie oder er so für einen transsexuellen Menschen empfindet? Darüber habe ich einige Zeit nachgedacht, bis ich zu dem Entschluss kam, das solche Labels eigentlich nur solchen Menschen helfen, die andere gern in Schubladen stecken, um sie zu diskriminieren. Ich glaube, ich mag den Begriff „queer“ lieber, denn er ist der Begriff, den „solche Menschen“ für sich selbst gewählt haben, also, wenn ich schon gerade ein Seelenstriptease hinlege, kann ich den Teil ganz nebenbei auch noch erledigen: „Hi, meine Name ist Benni, und ich bin queer - auch wenn ich nicht so wirke.“

Doch ich schweife ab. In all den tiefen Gesprächen die wir hatten, erzählte mir Kay eine Sache, die mich besonders berührte. Sie gestand mir, dass sie jeden Abend mindestens vier Bier trinken musste, um einschlafen zu können und von grausamen Albträumen verschont zu bleiben. Sie sprach davon, wie sehr sie sich dafür schämte und dass sie sich fest vorgenommen hatte, endlich damit aufzuhören, um dann eine Traumatherapie zu beginnen.

Es brach mir das Herz das ein Mensch mit so einer wunderschönen Seele - und so wunderschönen türkisblauen Augen - in seinem Leben schon so viel Leid ertragen musste, dass sie sich nicht anders zu helfen wusste, als sich tagtäglich zu betrinken. Und zugleich konnte ich es so gut nachvollziehen, denn ich selbst war - abgesehen von der relativ kurzen Unterbrechung in der Psychiatrie - in den vergangenen zwei Jahren wohl nicht eine Sekunde lang nüchtern gewesen, auch wenn meine Droge „nur“ das Mariuhana war, das ich regelmäßig über den Tag verteilt rauchte, um zu „entspannen“. Ich beschloss, Kay ein Lied zu schreiben.

  • Kaputt
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Kapitel 3: Das Jahr der Genesung. oder: Lernen zu Lieben, lernen zu leben

  • Flashback
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Sie das bist du. Du die mich - wie heute Nacht - noch immer in meinen Träumen besucht. Der Mensch den ein Teil von mir immer noch liebt und wahrscheinlihc immer lieben wird. Der mich manchmal dazu bringt, gleich nach dem Erwachen „ich vermisse dich“ zu flüstern, weil er einfach nicht aufhören kann in meinen Träumen verzweifelt einen längst verlorenen Kampf um deine Liebe weiter zu kämpfen.

Dieser Teil von mir gaukelt mir in meinen Träumen vor, wir wären noch zusammen, und dass es sich lohnt, all die Erniedrigungen, die Lügen, die Qualen und die Übergriffe zu ertragen.

Denn auch das bist du: eine der zu vielen Täter*innen in meinem Leben, die es genossen, mich leiden zu sehen. Einer der Menschen, deren Augen glitzerten und deren sadistisches Lächeln aufblitzten, wenn sie ihre Macht über mich nutzten, um ihre sadistische Lust am Leid anderer zu befriedigen. Einer jener Menschen, die ein anderer Teil von mir zutiefst verabscheut, und der mich dafür verurteilt, solche Menschen jemals so nah an mich herangelassen zu haben wie dich.

Du bist einer der Gründe, warum ich mittlerweiler vier Jahre Psychotherapie hinter mir habe und heute wieder in einem Bett in der Psychiatrie erwacht bin. Du und die anderen Täter*innen tragen eine Mitschuld daran, dass ich mich an manchen Tagen so sehr hasse, mich so sehr vor mir selbst ekele, dass ich mir die Arme aufritze oder meinem Leben ein Ende setzen will.

Das, was du und die anderen mir angetan haben, weil ihr eure Lust daran, anderen wehzutun, mit Leidenschaft oder gar Liebe verwechseltet, kann ich euch nicht verzeihen.

Die Erinnerungen daran werde ich in mir tragen müssen, mein Leben lang. Und es wird noch einer langer Weg sein, bis ich zumindest mir selbst verzeihen kann, dass ich zuließ, dass ihr mich dafür benutzt. Dass ich mich nicht früher und entschiedener dagegen gewehrt habe.

Und dennoch kann und will ich dich nicht hassen. Ich wünsche dir und mir von ganzem Herzen, dass wir beide es eines Tages schaffen, das Loch in unserer Seele zu füllen und uns selbst zu lieben - damit wir dazu fähig werden, andere zu lieben, ohne sie mit unserer Liebe zu verbrennen.

  • Müde, tod und leer
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Epilog: Nicht das Ende, der Anfang einer Reise \\

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