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Anarchistische Kritik an Parlamentarimus und modernen Governance-Regimen

„Alle paar Jahre zu Wahlen wiederbelebt, verkommt die individuelle Lust an der Demokratie zum kurzzeitigen politischen Trip, der nach dem Akt in partizipatorischer Enthaltsamkeit endet, als zögen sich politische Anliegen hinter Klostermauern zurück. Diese Form politischer Askese trägt kunstvolle Namen: Repräsentative Demokratie, Parlamentarismus, Präsidialdemokratie. “ Burnicki 2003: 9

Die provokante Polemik dieses Eingangszitats spitzt die Kritik und den Frust der immer größer werden Gruppe der „Politikverdrossenen“, der „Nichtwähler“ zu: Geht man von der seit Jahrzehnten fallenden Wahlbeteiligung aus, scheinen sich immer mehr Menschen in den Institutionen der „repräsentativen Demokratie“ nicht mehr repräsentiert zu fühlen, scheinen die dort getroffenen Entscheidungen an den Bedürfnissen der betroffenen Bürger immer häufiger vorbei zu gehen. Ausdruck findet diese Frustration immer öfter in sogenannten Akten des „zivilen Ungehorsams“, wie sie etwa die massenhaften Platzbesetzungen im Rahmen der Bürgerproteste um das Bauprojekt „Stuttgart 21“ darstellten. Auch die Zeltcamps in den Innenstädten Spaniens und Griechenlands sind ähnliche Ausdrucksformen des gleichen Problems. Radikalere und zum Teil gefährliche Ausmaße nahm diese Unzufriedenheit im August vergangenen Jahres in England an, wo tausende Jugendliche – organisiert in Cliquen und Banden – offensichtlich keinen anderen Weg sahen, sich Gehör zu verschaffen und zumindest kurzfristig ihre Lebenssituation zu verbessern, als mit Plünderungen von Geschäften und Gewalt gegen Dinge.

So unterschiedlich die konkreten Anlässe dieser Aktionen auch sein mögen, wie sehr sich die gesellschaftliche Zusammensetzung der Protestierenden in den verschiedenen Ländern auch unterscheiden mögen, eine Forderung haben sie alle gemeinsam: die Forderung nach mehr Demokratie und Mitbestimmung.

So verwundert es nicht, dass das Thema „politische Legitimation“ in den vergangenen Jahren zu einem Dauerbrenner in der politischen Wissenschaft geworden ist und hier meistens unter den Schlagworten „Politikverdrossenheit“ oder auch „Krise der Repräsentation“ besprochen wird.

Die spontanen Ausbrüche von Protesten belegen, dass es in der Gesellschaft offensichtlich noch das Bedürfnis an politischer Betätigung gibt. Die sinkende Wahlbeteiligung und die schwindenden Mitgliederzahlen der etablierten Parteien legen jedoch gleichzeitig den Schluss nahe, dass das bestehende parlamentarische System dieses Bedürfnis bei vielen Menschen nicht mehr befriedigen kann.

Diese Menschen greifen immer häufiger auf Arten des politischen Handelns, auf Formen des politischen Protests zurück, die ihren Ursprung in der politischen Bewegung des Anarchismus haben. Konzepte des „zivilen Ungehorsams“ oder der „direkten Aktion“ traten schon zum Ende des 19. Jahrhunderts im Rahmen anarchistischer gewerkschaftlicher Kämpfe in Südamerika auf. 1) Heute gehören Aktionen des „zivilen Ungehorsams“ (Sitzblockaden, Besetzungen) und der „direkten Aktion“ (Boykotte) zum alltäglichen Repertoire sozialer Bewegungen.

1.1. Warum anarchistische Theorie?

Wenn diese „anarchistische Art“, Politik zu machen, auf immer mehr Menschen eine Anziehungskraft ausübt und gleichzeitig die Unterstützung in der Bevölkerung für die etablierten Institutionen parlamentarischer Demokratie immer mehr schwindet, könnte es zu interessanten Ergebnissen führen, sich die Demokratietheorie des Anarchismus einmal genauer anzusehen.

Ein Vergleich zwischen Anarchismus und der im momentanen politikwissenschaftlichen Diskurs dominanten Governance-Theorie könnte helfen, jene Schwachpunkte aufzudecken, die dazu führen, dass sich immer mehr Menschen von den Institutionen der parlamentarischen Demokratie abwenden. Diesen Versuch möchte ich in der vorliegenden Arbeit wagen.

Versucht man, von den konkreten Inhalten und Anlässen der erwähnten sozialen Proteste zu abstrahieren, so geht es letztlich um die Frage: „Wer ist warum berechtigt, für ein spezifisches gesellschaftliches Problem Entscheidungen zu fällen und diese (notfalls auch gegen gesellschaftliche Widerstände) durchzusetzen?“

In der Politikwissenschaft wird diese Frage unter dem Stichwort der „politischen Legitimation“ oder - spezifisch auf demokratische Gesellschaftsformationen konkretisiert – „demokratischen Legitimation“ behandelt. In meiner Arbeit werde ich mich deshalb von zwei Leitfragen leiten lassen:

  • Was verstehen Governance-Forschung und anarchistische Theorie unter „demokratischer Legitimation“?
  • Welche Elemente anarchistischer Theorie und Praxis könnten Governance-Regime adaptieren, um ggf. ihre demokratische Legitimation gegenüber dem jetzigen Stand zu verbessern?

Im ersten Abschnitt meiner Arbeit werde ich dazu zunächst den Stand des klassischen politikwissenschaftlichen Diskurses über „demokratische Legitimation“ darstellen, um diesen in einem nächsten Schritt auf die neuere politische Form der Governance-Regime anzuwenden und die daraus zu Tage tretenden legitimatorischen Schwächen von Governance-Regimen darzustellen.

Im zweiten Teil meiner Arbeit werde ich dann die anarchistische Kritik an der klassischen politikwissenschaftlichen Konzeption von „demokratischer Legitimation“ darstellen, um in einem nächsten Schritt am Beispiel des „anarchistischen Konsensprinzips“ exemplarisch darzustellen, welche alternativen Demokratievorstellungen die anarchistische Theorie auf Grundlage dieser Kritikpunkte entwickelt hat.

Im dritten Teil meiner Arbeit werde ich diese alternativen Demokratievorstellungen dem Governance-Konzept gegenüberstellen, ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiede herausstellen und daraus folgernd Vorschläge entwickeln, welche Elemente des anarchistischen Konsensprinzips in das Governance-Konzept übernommen werden könnten, um seine demokratische Legitimation zu erhöhen.

Im vierten und letzten Teil werde ich die Ergebnisse meiner Arbeit nochmals systematisch zusammenfassen und sie abschließend sowohl auf ihre alltagstaugliche Anwendung in der politischen Praxis als auch auf ihren Nutzen für die weitere Theoriebildung kritisch beurteilen.

2. Demokratische Legitimation durch die Wahl von Vertretern

In der klassischen Politikwissenschaft gilt eine Entscheidung als demokratisch legitimiert, wenn sie von demokratisch gewählten Vertretern des Volkes gefällt wurde. Diese Vertreter müssen in einer freien und geheimen Wahl vom „Volk“ gewählt werden. Diese Gruppe des „Volkes“ wird durch spezifische Merkmale definiert.

In der Regel werden die Wahlberechtigten definiert über die Staatszugehörigkeit sowie ein bestimmtes Mindestalter (jedoch gibt es in der Geschichte zahlreiche Beispiele für weitere Kriterien, etwa das Geschlecht, die ethnische Zugehörigkeit oder ein Mindestmaß an persönlichem Besitz). Die auf diese Weise gewählten Menschen sind für einen gewissen Zeitraum nun die „demokratisch legitimierten“ Vertreter ihrer Wählerschaft. Ihre Entscheidungen werden definiert als Wille ihrer Prinzipale, also des Volkes.

Daraus ergibt sich, dass in der klassischen Politikwissenschaft die gewählten Vertreter des Volkes direkt demokratisch legitimiert sind, alle konkreten Entscheidungen jedoch nur indirekt über den Umweg der gewählten Vertreter demokratisch legitimiert sind. Die direkte Beteiligung des Volkes an Entscheidungen ist nur in Ausnahmefällen, etwa dem sogenannten „Volksentscheid“ vorgesehen.

Begründet wird dies damit, dass das Volk die Möglichkeit hat, bei der nächsten Wahl einen anderen Vertreter zu wählen und somit Vertretern, die nicht in ihrem Sinne handeln, die ihnen übertragene Entscheidungsbefugnis wieder aberkennen können.

2.1. Governance und Legitimation

Innerhalb der Politikwissenschaft gibt es verschiedene Forschungsrichtungen, die divergierende Meinungen vertreten, ob und in welchem Maße außerstaatliche Akteure eine relevante Rolle bei der politischen Willensbildung und der Umsetzung politischer Entscheidungen spielen.

Die Governance-Forschung vertritt in diesem Diskurs den Standpunkt, dass in den heute vorherrschenden pluralistischen Gesellschaften außerstaatliche Akteure in beinahe jeder politischen Arena wichtige Akteure sind, ohne deren Einbindung in den Prozess der politischen Willensbildung durch die „etablierte“ Politik Entscheidungen nicht oder nur mit erheblichen Mängeln umgesetzt werden können. 2)

Aufgrund dieser Einsicht werden in der politischen Praxis immer häufiger mehr oder weniger „informelle“ (d.h. nicht vom Volk direkt gewählte) und horizontal organisierte (also nicht hierarchische) Verhandlungssysteme erschaffen, in denen – je nach Politikfeld und Entscheidungsinhalt in unterschiedlicher Zusammensetzung – sowohl parlamentarische Vertreter als auch außerstaatliche Akteure vertreten sind, die politische Entscheidungen der parlamentarischen Demokratie begleiten und vorbereiten. Diese Verhandlungssysteme werden in der Governance-Forschung „Governance-Regime“ genannt. 3)

Beurteilt man diese Governance-Regime nach den im vorangegangenen Kapitel beschriebenen Kriterien für demokratische Legitimation wird klar, dass sie schwächer legitimiert sind als gewählte Regierungen und Parlamente.

Dies ergibt sich daraus, dass die in Governance-Regimen vertretenen Akteure - zumindest teilweise – nicht durch das Volk in diese Institutionen hineingewählt worden sind. Vielmehr handelt es sich hierbei um für das jeweils zu bearbeitende Thema oder Problem „relevante“ Akteure, d.h. sie werden danach ausgesucht, ob sie von diesem Thema betroffen sind und/oder die entsprechenden Ressourcen haben, um die in diesem Gremium gefällten Entscheidungen aktiv mit umsetzen zu können. 4)

Daraus ergeben sich zwei grundlegende Probleme: Zum einen liegt die Definitionsmacht darüber, wer Teil des Regimes werden soll und wer nicht, wer also die „relevanten“ Ansprechpartner sind und wer nicht, bei den Initiatoren eines Governance-Regimes. Dadurch haben die Initiatoren die Möglichkeit, dieses Gremium von Anfang an so zu besetzen, dass ihre eigenen Interessen möglichst umfassend durchgesetzt werden, weil es möglich ist, entgegengesetzte Interessen(-sgruppen) nicht in den Entscheidungsprozess mit einzubeziehen. Auch gibt es keine Möglichkeit, diese Beteiligung einzufordern.

Zum anderen gibt es Schwierigkeiten damit, die in solchen Regimen gefällten Entscheidungen als „legitim“ und „bindend“ darzulegen. Denn in parlamentarischen Demokratien haben - wie schon erwähnt - traditionell nur über Wahlen vom Volk legitimierte Vertreter (bzw. die durch sie gebildeten Parlamente) das Monopol darauf, allgemeingültige Regeln und Gesetze zu erlassen.

Wenn beispielsweise zwei konkurrierende Governance-Regime zum gleichen Thema unterschiedliche Entscheidungen fällen, gibt es kein Kriterium dafür, welches der beiden Gremien legitimiert ist, diese Entscheidung zu fällen. Deshalb ist es in der politischen Praxis häufig so, dass Entscheidungsvorlagen vorbereitet werden, die dann dem gewählten Parlament nur noch vorgelegt werden, damit dieses sie durchstimmt, und die demokratische Legitimation der Entscheidung im Nachhinein formal hinzugefügt wird. 5)

Dadurch jedoch geraten Entscheidungen von Governance-Regimen immer wieder in die Kritik, illegitim und undemokratisch zu sein. Dieser Kritik ist aus meiner Sicht jedoch auch nicht viel entgegenzusetzen, so lange man dem Demokratieverständnis der klassischen Politikwissenschaft verhaftet bleibt. Wie wir jedoch in den folgenden Kapiteln sehen werden könnte die anarchistische Politiktheorie für dieses Dilemma Lösungsansätze bereithalten.

3. Anarchistische Kritik und Lösungsansätze

Im Folgenden werde ich den im zweiten Kapitel dargelegten Standpunkt, dass demokratische Legitimation durch die Wahl von vom Volk gewählten Vertretern hergestellt werden kann, mit ausgewählten Argumenten aus anarchistischen Theorien konfrontieren.

Dabei werde ich mich zunächst nur an der im zweiten Kapitel dargelegten politikwissenschaftlichen Theorie orientieren, um die dargelegte Kritik dann in nächsten Teil spezifischer auf Governance-Regime zu konkretisieren.

Ausgehend von diesem zu erreichenden Idealzustand, aber auch unter dem Eindruck konkreter Erfahrungen aus politischer Praxis, insbesondere in den sogenannten „Neuen sozialen Bewegungen“ wie beispielsweise der Anti-Atomkraft-Bewegung, entfalteten Vertreter des anarchistischen Standpunkts eine Reihe von Kritikpunkten an parlamentarischen Systemen. Die aus meiner Sicht wichtigsten und stichhaltigsten führe ich im Folgenden auf:

3.1. Entscheidungskompetenzen sind ungleich verteilt

Durch die Wahl von Vertretern in Gremien geben die Wähler ihre Entscheidungskompetenzen und insbesondere ihre Entscheidungsbefugnisse an die von ihnen gewählten Vertreter ab und haben bis zur nächsten Wahl keine Möglichkeit, diese wiederzuerlangen. 6)

Daraus ergeben sich Probleme. Die gewählten Vertreter unterliegen über einen gewissen Zeitraum keiner direkten Kontrolle durch diejenigen, von denen sie gewählt wurden. Wenn die gewählten Vertreter entgegen den Interessen ihrer „Klienten“ handeln, können jene dies nicht direkt korrigieren, sondern sind in der Regel gezwungen, dies bis zur nächsten turnusmäßigen Wahl hinzunehmen. 7)

Daraus ergibt sich das nächste Problem: In dieser Konstellation hat nur eine kleine Minderheit von Menschen (die Gemeinschaft der Vertreter) die Entscheidungsbefugnis über die Belange einer großen Mehrheit (aller Wähler). 8)

Dieses Phänomen wird durch die in parlamentarischen Demokratien gängige Praxis der „Mehrheitsentscheidung“ noch verstärkt, da dadurch wiederum eine noch kleinere Teilmenge der Vertreter gegen den Willen der Minderheit dieser Gruppe entscheidet. Das kann dazu führen, dass die Interessen dieser kleinen Mehrheit gegen den Willen der großen Mehrheit der Bevölkerung durchgesetzt werden. 9)

Ein gutes Beispiel für dieses Problem ist der (mittlerweile durch großen öffentlichen Druck in Folge der Ereignisse in Fukushima wieder aufgehobene) von der Bundesregierung beschlossene „Ausstieg aus dem Atomausstieg“. Obwohl in allen Umfragen und durch massive Proteste dargestellt wurde, dass die Mehrheit der Bevölkerung gegen eine Laufzeitverlängerung der deutschen Atomkraftwerke ist, hielt die Bundesregierung an diesen Plänen fest.

In vielen Fällen kann es sogar vorkommen, dass diese kleine Minderheit sogar über Themen entscheidet, die sie persönlich gar nicht betreffen. Exemplarisch zu nennen wäre hier beispielsweise die Rentengesetzgebung, von der die meisten Parlamentarier nach ihrer politischen Karriere aufgrund der garantierten Pension als Abgeordneter gar nicht betroffen sein werden.

3.2. „Minderheiten“ werden für die Entscheidungen von „Mehrheiten“ mitverantwortlich gemacht.

Ein weiteres Problem resultiert aus dem im Parlamentarismus üblichen Verfahren der „Mehrheitsentscheidung“. Denn durch dieses wird ein Teil der Gruppe dazu „gezwungen“, eine Entscheidung mitzutragen, der sie nicht zugestimmt haben. Damit wird eine Gruppe von Menschen von einer anderen Gruppe dazu genötigt, etwas zu tun, was sie nicht will (Burnicki S. 47-48) – mit anderen Worten: es wird „Herrschaft“ ausgeübt – und eben das läuft dem Ziel der „herrschaftsfreien Gesellschaft“ der Anarchisten zuwider und muss deshalb aus ihrer Sicht verhindert werden.

3.3. Informationen gehen verloren

Ein weiteres Problem stellt die wechselseitige unvollständige Informationslage dar: die kleine Gruppe der Vertreter ist schon aus rein zeitlichen Gründen nicht in der Lage, alle Bedürfnislagen, Argumente und Informationen der durch sie Vertretenen zusammenzutragen.

Um jedoch eine für alle Betroffenen möglichst optimale Lösung zu finden, wären diese Informationen eigentlich nötig. Andererseits besteht wiederum auf Seiten der Gruppe der Vertreter eine (für sie häufig nützliche) Informationshierarchie – sie haben Zugang zu Informationen, auf die die große Mehrheit der Bevölkerung nur eingeschränkten Zugriff hat.

Auch dies können sie wiederum potenziell zu ihrem persönlichen Vorteil nutzen, beispielsweise, indem sie Informationen zurückhalten, um eine Entscheidung in eine bestimmte Richtung zu lenken. 10)

So entsteht also zwischen „Wählern“ und „Gewählten“ eine wechselseitige Intransparenz, die beinahe zwangsläufig zu nicht optimalen Entscheidungen führen muss.

4. Das anarchistische Konsensmodell: ein direktdemokratisches Gegenmodell

In Reaktion auf die im vorherigen Kapitel dargelegte Kritik an parlamentarischen Systemen haben sich verschiedenste Theorierichtungen innerhalb des Anarchismus der Aufgabe gewidmet, Konzeptionen und Modelle aufzustellen, die Alternativen zu diesen aufzeigen sollen.

Exemplarisch werde ich hier eines dieser Konzepte darstellen, das ich im Weiteren das „anarchistische Konsensmodell“ nennen werde. Der Grundgedanke dieses Konzeptes ist einfach: Die demokratische Legitimation einer Entscheidung hängt von dem Grad der Zustimmung der von dieser Entscheidung Betroffenen ab.

Darüber hinaus sollte niemand gezwungen werden, diese Entscheidung gegen seinen ausdrücklichen Willen mitzutragen, weil dadurch wiederum Herrschaft über ihn ausgeübt werden würde, was der Anarchismus grundsätzlich ablehnt. Vereinfacht bedeutet das: wenn eine Entscheidung bei allen Betroffenen Zustimmung findet, hat sie ihre größtmögliche demokratische Legitimation erreicht.

Das anarchistische Konsensmodell versucht den demokratischen Willensbildungsprozess so umzugestalten, dass genau dieses Ziel erreicht wird. 11) Doch welche Bedingungen müssen dafür erfüllt sein? Es muss

  1. Klar sein, wer von der Entscheidung betroffen ist, von wessen Zustimmung also die demokratische Legitimation der Entscheidung abhängt,
  2. Der Willensbildungs- und Entscheidungsprozess darauf ausgerichtet sein, dass möglichst alle Beteiligten dem Ergebnis zustimmen können und damit die höchstmögliche demokratische Legitimation erreicht werden kann,
  3. Jedem Betroffenen die Möglichkeit eingeräumt werden, seine Bedürfnisse und insbesondere seine Ablehnung zu einer Entscheidung zu äußern, damit diese im Entscheidungsprozess berücksichtigt werden und niemand eine Entscheidung mittragen muss, die er ablehnt.

Um diese Kriterien erfüllen zu können, wurde das anarchistische Konsensmodell entwickelt, das sich im Wesentlichen auf drei ineinandergreifende und sich gegenseitig bedingende Konzepte stützt:

4.1. Das Betroffenheitskriterium

Der Zugang zu inhaltlichen Entscheidungen innerhalb eines Gemeinwesens wird im anarchistischen Konsensmodell über die „Betroffenheit“ von einer Entscheidung geregelt. Jede/r, der oder die von einer Entscheidung betroffen ist, ist dadurch gleichzeitig legitimiert, auch persönlich mitzuentscheiden, im Entscheidungsprozess also seine eigenen Ansichten und Interessen zu vertreten. 12)

Damit sollen verschiedene Kritikpunkte an der parlamentarischen Demokratie aufgehoben werden.

Zum ersten ist damit qua definitionem zunächst einmal gewährleistet, dass Menschen, die von einer Entscheidung gar nicht betroffen sind, darüber auch nicht mehr entscheiden dürfen. 13) Des Weiteren werden die Entscheidungskompetenzen unter allen Betroffenen gleich verteilt, während sie im parlamentarischen System nur gewählten Vertretern zugebilligt werden, 14) und auch in Governance-Regimen werden die Zugangsmöglichkeiten fallspezifisch und relativ willkürlich (und zwar häufig von den Initiatoren der Governance-Regime) festgelegt. 15)

Zum anderen wird mit dieser Zugangsregelung dafür Sorge getragen, dass die Informationslage verbreitert wird. Wenn jeder Betroffene seine eigenen Informationen und Bedürfnisse direkt in den Entscheidungsprozess einbringen kann und somit der „Umweg“ über den gewählten Vertreter entfällt, entfällt damit zumindest potenziell ein Grund für unvollständige Informationslagen bei Entscheidungen und die im vorangegangenen Kapitel dargelegte Ursache von Informationshierarchien. 16)

Als theoretisches Konzept hat die Zugangsregelung über „Betroffenheit“ auch darüber hinausgehende maßgebliche Vorteile legitimatorischer Art gegenüber den Konzepten der parlamentarischen Demokratie und der Governance. Zunächst einmal hat eine durch alle „Betroffenen“ getroffene Entscheidung eine breitere und direktere legitimatorische Basis als die beiden anderen Konzepte.

Wenn es tatsächlich gelingt, alle „Betroffenen“ an der Entscheidung zu beteiligen, kann niemand im Nachhinein die Legitimität einer Entscheidung anzweifeln, ohne die eigene Glaubwürdigkeit dabei zu verlieren, weil er oder sie diese Entscheidung ja mit getroffen hat. Damit einher geht, dass durch dieses Verfahren die Betroffenen gleichzeitig persönlich in die Pflicht genommen werden, an der Verwirklichung der Entscheidung aktiv teilzuhaben oder aber ihr zumindest nicht entgegenzustehen. 17)

4.2. Der Konsens

Um diese Bindungskraft der Entscheidungen weiter zu stärken, sieht das anarchistische Konsensprinzip vor, dass alle Entscheidungen im Konsens getroffen werden, d.h. mindestens ohne Gegenstimmen einer Mehr- oder Minderheit, wenn möglich sogar mit der aktiven Zustimmung aller. 18)

Hierbei ist zu betonen, dass zwar angestrebt wird, dass eine Entscheidung möglichst alle Präferenzen der Betroffenen befriedigt, dies aber keineswegs die notwendige Voraussetzung zur Erzielung eines Konsenses ist. Ein Konsens kann auch die Enthaltung oder gar die (schwache) Ablehnung einer Entscheidungsperspektive durch Betroffene enthalten, so lange keiner der Betroffenen diese Ablehnung für so elementar empfindet, dass er sich genötigt sieht, ein Veto einzulegen. 19)

Wenn ein solcher Konsens von der Gruppe der Betroffenen erzielt wurde, ist damit die höchstmögliche Legitimation für eine Entscheidung erreicht – kein Entscheidungsberechtigter hat mehr Einwände gegen die Entscheidung und wird somit nicht dazu gezwungen, eine Entscheidung gegen seinen Willen mitzutragen. Sowohl die Herrschaft einer Minderheit über eine Mehrheit als auch einer Mehrheit über eine Minderheit wird durch diesen Entscheidungsmodus verhindert. 20)

Damit wird der wichtigste Anspruch des Anarchismus, die Herrschaftsfreiheit, verwirklicht. Gleichzeitig wird dafür Sorge getragen, dass jede gefällte Entscheidung die (nach anarchistischen Kriterien) höchstmögliche demokratische Legitimation erhält.

4.3. Das Vetorecht

Untrennbar verbunden mit dem Konzept des Konsenses ist im anarchistischen Konsensmodell das sogenannte „Vetorecht“. Dieses moralische Recht wird jedem an der Entscheidung beteiligten Individuum zugesprochen. Es besagt, dass ein von einem Individuum oder einer Teilgruppe ausgesprochenes Veto gegen einen Entscheidungsvorschlag in jedem Fall verhindert, dass dieser Vorschlag als eine legitime Entscheidung der Gesamtgruppe angesehen werden kann. 21)

Es gibt zwei Möglichkeiten, mit einem ausgesprochenen Veto umzugehen. Die erste und im Regelfall angestrebte Möglichkeit ist, dass der Entscheidungsprozess wieder aufgenommen wird, um einen neuen Kompromissvorschlag zu erarbeiten, gegen den kein Veto mehr eingelegt wird. Die zweite Möglichkeit (die jedoch abhängig vom Entscheidungsinhalt nicht immer umsetzbar ist) besteht darin, dass sich die Gruppe der Betroffenen aufteilt in zwei (oder mehrere) Gruppen, die jeweils unterschiedliche Beschlüsse fassen, gegen die in dieser Teilgruppe kein Veto eingelegt wird. Diese Beschlüsse sind jeweils auch nur für diese Teilgruppen bindend, die Beschlüsse divergierender Teilgruppen müssen nicht befolgt werden. 22)

Durch dieses Vetorecht wird verhindert, dass von einer Entscheidung negativ betroffene Mehrheiten oder Minderheiten in einer Gruppe gezwungen werden können, diese mittragen zu müssen. Das Vetorecht stellt somit einen im Entscheidungsprozess direkt verankerten Minderheitenschutz dar. 23)

Ein solcher Minderheitenschutz ist im in der parlamentarischen Demokratie verwendeten Entscheidungsmodus der „Mehrheitsentscheidung“ nicht enthalten und kann diesem höchstens im Nachhinein hinzugefügt werden (etwa in Form einer „Sperrminorität“) – paradoxerweise kann dies jedoch nur durch eine Mehrheit beschlossen werden. 24)

5. Lösung des Legitimationsproblems durch Übernahme von Elementen des anarchistischen Konsensmodells

Im Folgenden werde ich versuchen, durch eine Gegenüberstellung der bisherigen Darstellung der Governance-Konzepte und der Konzepte des anarchistischen Konsensmodells, Ansatzpunkte für eine Lösung des in Kapitel 3 dargestellten Problems der fehlenden demokratischen Legitimation von Governance-Regimen zu entwickeln. Dazu werde ich in Kapitel 5.1. die bisherigen Ergebnisse meiner Arbeit kurz zusammenfassen und Gemeinsamkeiten sowie Unterschiede zwischen beiden Konzepten herausarbeiten. In einem zweiten Schritt werde ich dann in Kapitel 5.2. diejenigen Elemente und Denkmuster des anarchistischen Konsensmodells herausstellen, die in Governance-Konzepte übernommen werden könnten, um deren legitimatorische Basis zu erhöhen.

5.1. Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Governance-Regimen und basisdemokratischen Komitees von „Betroffenen“

Vergleicht man Governance-Konzepte mit der Idee des anarchistischen Konsensmodells wird eine zentrale Gemeinsamkeit offensichtlich: beide Konzepte versuchen, eine höhere Effektivität der Entscheidungen dadurch herzustellen, dass von der Entscheidung Betroffene in den Entscheidungsprozess mit eingebunden werden, die Entscheidungsstrukturen also enthierarchisiert werden.

Ziel ist es, dadurch zum einen Informationen und Interessen der direkt Betroffenen in die Entscheidung mit einfließen zu lassen, zum anderen die Entscheidung auf eine breitere gesellschaftliche Basis zu stellen und damit Sorge zu tragen, dass die Entscheidung von den Betroffenen auch tatsächlich umgesetzt wird.

Prinzipiell sind sich die beiden Konzepte sowohl in ihren Zielen als auch in ihren Mitteln also relativ ähnlich. Es gibt jedoch auch massive Unterschiede. Die Governance-Konzeption versucht, ihren Entscheidungen durch das nachträgliche Zustimmen der demokratisch gewählten Vertreter Legitimation zu verleihen.

Grundsätzlich versteht sich dieses Konzept als komplementärer oder gar integraler Bestandteil staatlichen Handelns, es stellt das Monopol der staatlichen Institutionen als einzig legitime Entscheidungsinstanz nicht grundsätzlich in Frage.

Hierin unterscheidet es sich grundsätzlich vom Konzept des Anarchismus. Dieses versucht bewusst, den Entscheidungsprozess zurückzuführen auf die betroffenen Individuen und jedwede übergeordnete Instanz wie etwa den Staat, wirtschaftliche Unternehmen oder andere „Interessensgemeinschaften“ aus dem Prozess herauszuhalten. Es versteht sich als Gegenentwurf zum Staat und stellt das Monopol der staatlichen Institutionen als einzig legitime Entscheidungsinstanz grundsätzlich in Frage. Es versucht, den Entscheidungsprozess von Beginn an für alle zu öffnen, die davon betroffen sind, und gewährt jedem, der daran ein Interesse hat, die Möglichkeit, an ihm zu partizipieren.

Wo in Governance-Regimen die Zugangs- und Entscheidungsmodalitäten abhängig von der Akteurs- und der Entscheidungskonstellation immer wieder neu definiert werden, werden sie im anarchistischen Konsensmodell von vorn herein allgemeingültig festgelegt. Mit eben dieser Festlegung, mit der Zugangsöffnung zu Entscheidungen und dem damit einhergehenden Konsensprinzip und dem zugehörigen Vetorecht, entledigt sich das anarchistische Konsensprinzip der legitimatorischen Schwächen der parlamentarischen Demokratien und damit auch denen der Governance-Regime.

5.2. Übernahmefähige Elemente des anarchistischen Modells zur Legitimationserhöhung von Governance-Regimen

Um den meritokratischen Tendenzen der Governance-Regime entgegenzuwirken bietet das anarchistische Konsensmodell die Methode an, den Zugang zur Entscheidungsarena nicht mehr wie bisher nur den Leistungseliten zu gewähren, sondern sie statt dessen prinzipiell jeder Person, die von dieser Entscheidung betroffen, ist zu öffnen.

Die demokratische Legitimation des Governance-Regimes und damit auch seiner Entscheidungen bezöge es aus der direkten Beteiligung des Volkes am Entscheidungsprozess, wodurch die bisherige Praxis einer nachträglichen Bestätigung durch demokratisch legitimierte Parlamente obsolet würde. Der Entscheidungsmodus in Governance-Regimen ist auch in der heutigen politischen Praxis zumeist der Konsens.

Jedoch gibt es aufgrund des informellen Charakters der Regime häufig nur diffuse bzw. „traditionell gewachsene“ Entscheidungsregeln oder besser „Gepflogenheiten“. Dies kann zu Unsicherheiten und Nachteilen für jene führen, die in einen solchen Entscheidungsprozess erst später eintreten und diese „gewachsenen“ Regeln nicht oder nicht in ausreichendem Maße kennen. Die existierenden Regeln zur Entscheidungsfindung zu explizieren und zu institutionalisieren könnte dazu beitragen, Informationshierarchien und damit Machtasymmetrien innerhalb des Governance-Regimes abzubauen.

Dies wäre insbesondere dann wichtig, wenn es wirklich zu einer Öffnung der Entscheidungsarenen käme, um die Zugangshürden für neu hinzukommende „Betroffene“ möglichst gering zu halten. Insbesondere wäre es dann wichtig, in das Entscheidungsverfahren einen effektiven Minderheitenschutz zu implementieren, damit auch Betroffene, die kein Droh- und Machtpotenzial zur Durchsetzung ihrer Interessen haben (also jene, die vorher nicht zu den Eliten gehört haben, die schon vorher an den Governance-Regimen beteiligt wurden), die Möglichkeit haben, ihre Interessen wirksam in den Entscheidungsprozess einfließen zu lassen. Zu diesem Zweck bietet das anarchistische Konsensprinzip das in Kapitel 4.3. beschriebene Vetorecht an.

6. Kritische Würdigung und Ausblick

Der Vergleich zweier auf den ersten Blick so unterschiedlicher Ansätze wie der Governance-Theorie auf der einen und anarchistischer Theorieansätze auf der anderen Seite bezieht seinen Reiz für mich gerade aus dieser Unterschiedlichkeit des Analysefokus und der vordergründig so diametral gegensätzlichen normativen Intentionen der Ansätze. Gerade aber durch diese Differenz werden aus meiner Sicht Probleme in den Vordergrund gerückt, die ansonsten verborgen bleiben, lassen sich Lösungsansätze entwickeln, die häufig außerhalb des Diskurshorizontes liegen, und eben daraus einen innovativen Charakter beziehen.

Freilich darf man jedoch nicht außer Acht lassen, dass die anarchistische Theorie wie jeder sozialwissenschaftliche Ansatz analytische und konzeptionelle Stärken und Schwächen hat. Sie hilft, bestimmte Phänomene in den Analysefokus zu stellen, während sie an anderer Stelle blinde Flecken und theoretische Schwächen aufweist.

Im Folgenden möchte ich die im Laufe dieser Arbeit sich herausgestellten Stärken der anarchistischen Sicht, aber auch deren „blinde Flecken“ und konzeptionelle Schwächen darstellen, um dann – die Ergebnisse dieser Arbeit zusammenfassend – einen Ausblick darauf zu geben, welche Probleme der Governance-Theorie sie lösen kann, aber auch welche neuen Fragen und Probleme dadurch aufgeworfen werden würden.

6.1. Stärken anarchistischer Theorien

Die Governance-Forschung kann vom anarchistischen Standpunkt insbesondere dort profitieren, wo ihr eigener Blickwinkel den Blick auf politische Phänomene verstellt. In der Governance-Forschung geht es in erster Linie darum, Entscheidungen möglichst effizient zu gestalten, also mit möglichst wenig Aufwand und in möglichst kurzer Zeit eine Lösung für ein Problem bereitstellen zu können. Um dies zu erreichen, nimmt sie den Ist-Zustand des Politikfeldes als gegeben hin - sozusagen als „Rahmenbedingung“ - und versucht, innerhalb dieses als „unveränderbar“ angenommenen institutionellen Rahmens, unter den Bedingungen nicht in Frage gestellter politischer Machtkonstellationen, Lösungsansätze zu entwickeln. 25)

So kommt nur ein bestimmtes Set möglicher Lösungsansätze für ein spezifisches Problem in den Blick, während jene Lösungsansätze „durch das Raster fallen“, die eine Veränderung der institutionellen Rahmenbedingungen oder der Machtkonstellationen zwischen den verschiedenen Akteuren voraussetzen würden. Begründet wird dies mit dem Anspruch, dass Wissenschaft nur zu beschreiben und nicht zu bewerten habe, dass sie normativ neutral bleiben müsse. Doch dieser Anspruch auf normative Neutralität kann nicht eingehalten werden, denn die Entscheidung, institutionelle Rahmenbedingungen und politische Machtkonstellationen im gegebenen Zustand zu belassen und unter diesen Umständen eine höhere Effizienz der Entscheidungen zu erreichen, ist letztlich die implizite Entscheidung, die gegebenen Verhältnisse in ihrer Reproduktion zu unterstützen – und damit ebenso eine normative Entscheidung wie der Versuch, eine gegebene Ordnung kritisieren oder gar stürzen zu wollen.

Die Auseinandersetzung mit anarchistischen Ansätzen kann gerade durch deren explizite Normativität dabei helfen, den Blick auf die normativen Implikationen der im Governance-Ansatz vorgenommenen Prämissen zu schärfen und diese kritisch zu hinterfragen. Die kritische Auseinandersetzung mit den normativen Forderungen anarchistischer Ansätze kann aber auch dazu anregen, die Zielsetzung der Governance-Forschung zu hinterfragen und ggf. abzuändern.

Denkbar wäre beispielsweise, abhängig vom jeweiligen Politikfeld das Ziel der möglichst hohen Effizienz der Entscheidungsfindung (also mit möglichst geringem Ressourcen- und Zeiteinsatz zu einem Entscheidungsergebnis zu kommen) aufzugeben zugunsten dem Ziel einer möglichst hohen Effektivität der Entscheidungsfindung (also zu einem Entscheidungsergebnis zu kommen, das für alle Betroffenen das höchstmögliche Maß an Bedürfnisbefriedigung verwirklichen kann).

6.3. Schwächen anarchistischer Theorien

Anarchistische Theorien entwickeln ihre Kritik und ihre Lösungsansätze vom Standpunkt eines utopischen Idealzustandes aus, der aus heutiger Sicht unrealistisch und nicht erreichbar erscheint.

Durch die Ausrichtung auf diesen Idealzustand, der aufgrund normativer Entscheidungen entwickelt wurde, fällt das Theoriegebäude anarchistischer Theorien in sich zusammen, wenn die normativen Grundlagen/Entscheidungen vom Gegenüber nicht geteilt werden. Jedoch sollte man sich darüber im Klaren sein, dass jede politische Theorie auf spezifischen normativen Grundannahmen fußt – der Unterschied besteht lediglich darin, dass beispielsweise Governance auf im gesellschaftlichen „Mainstream“ akzeptierte normative Grundlagen aufbaut und diese deswegen nicht explizieren muss.

Governance kann sich darauf verlassen, dass die zugrunde liegenden normativen Setzungen, das zugrunde liegende Gesellschafts- und Menschenbild von den meisten Lesern „intuitiv“ verstanden und geteilt wird. Dadurch kann die Governance Theorie von sich behaupten, „wissenschaftlich neutral“ zu sein, ohne dafür im Mainstream-Diskurs kritisiert zu werden. Die explizit normative Ausrichtung anarchistischer Theorien hat jedoch weitere Nachteile: sie „will“ den Staat und jede Art von Herrschaft kritisieren – dadurch erhöht sich die Gefahr, dass jeder Analysegegenstand sozusagen „zurechtgebogen“ wird, um ihn in das eigene Weltbild einzupassen, dass also nicht genügend Energie darauf verwendet wird, um zumindest zu versuchen, Analysegegenstände so neutral wie möglich zu beobachten.

Das Ziel wissenschaftlichen Arbeitens ist es, auf der Grundlage möglichst neutraler Beobachtung zu neuen, intersubjektiv nachvollziehbaren Erkenntnissen zu kommen, und nicht, eine bestimmte Weltanschauung zu verbreiten – dieses Ziel kann sowohl dann nicht erreicht werden, wenn man sich der eigenen Subjektivität, der eigenen Normativität nicht bewusst ist, als auch, wenn man sich ihrer zwar bewusst ist, Wissenschaft jedoch bewusst betreibt, um die eigenen Normen und Weltanschauungen apologetisch weiterzuverbreiten.

6.4. Problemlösungsstrategien des anarchistischen Konsensmodells für das Governance Konzept…

Das in dieser Arbeit vorgestellte „anarchistische Konsensmodell“ stellt einen alternativen Lösungsansatz zur demokratischen Legitimation von Entscheidungen jenseits parlamentarischer Abstimmungsverfahren dar, da es allen Betroffenen direkte Partizipationschancen eröffnet.

Damit ließe sich also – in dafür geeigneten Entscheidungsszenarien, in denen es möglich ist, alle davon Betroffenen tatsächlich an der Entscheidung mitwirken zu lassen – das in Kapitel 2.1. dargestellte Problem der fehlenden Legitimation von durch Governance-Regime gefällte Entscheidungen lösen.

Darüber hinaus besteht durch dieses Verfahren die Möglichkeit einer vollständigeren Informationslage über die Präferenzen der von der Entscheidung Betroffenen, auf deren Grundlage eine für alle Beteiligten effektivere Entscheidung möglich wird.

Ein weiterer Vorteil besteht darin, dass durch die direkte Beteiligung der Betroffenen eine konkrete Umsetzung des gefällten Beschlusses potenziell von allen Beteiligten mitgetragen wird. Es besteht dadurch zum einen eine geringere Gefahr, dass Menschen Ressourcen einsetzen, um die Umsetzung des Beschlusses zu verhindern, zum anderen werden potenziell mehr zivilgesellschaftliche Ressourcen zur Umsetzung des Beschlusses aktiviert.

6.5. … und die daraus hervorgehenden neuen Probleme

Das anarchistische Konsensmodell weist jedoch auch konzeptionelle Schwächen auf. Insbesondere das Betroffenheitskriterium hat ein eklatantes Problem. Es gibt bisher keine allgemein anerkannte Definition dazu, wie der Begriff der Betroffenheit zu definieren ist. Im Gegenteil muss auch die Betroffenheit immer wieder in Abhängigkeit vom jeweiligen Entscheidungsgegenstand inhaltlich definiert werden.

Im anarchistischen Diskurs wird diesem Problem lapidar mit der Formel „betroffen ist jeder, der sich aus seiner subjektiven Einschätzung heraus betroffen fühlt“ begegnet. 26) Doch das ist in der politischen Praxis so nicht umsetzbar. Denn so kann man nie klar sagen, ob eine getroffene Entscheidung legitim ist oder nicht, ob nicht doch irgendwo noch ein „Betroffener“ sitzt, der an der Entscheidung hätte beteiligt werden müssen und ggf. sein Veto einlegen würde.

Mit anderen Worten: lässt man das Betroffenheitskriterium bewusst offen, diffus und vage, sprich: unterdefiniert, eröffnet man damit dem Missbrauch dieses Begriffes Tür und Tor. „Betroffene“ könnten je nach Bedarfslage des Definierenden als all jene definiert werden, die den eigenen Standpunkt und die eigene Bedürfnislage teilen, oder aber es könnte versucht werden, den eigenen Standpunkt mit dem Hinweis auf den diffus umrissenen, theoretisch möglichen nicht anwesenden „Betroffenen“ zu untermauern und dadurch die Legitimität einer Entscheidung ständig in Frage zu stellen.

Generell stellt sich das anarchistische Konsensmodell als weniger verbindlich dar als beispielsweise die Entscheidungen in Governance-Regimen. Dies liegt im Anspruch der Herrschaftsfreiheit des anarchistischen Ansatzes begründet. Wenn jegliche Machtausübung, jegliche Sanktion als Verstoß gegen das Prinzip der Herrschaftsfreiheit angesehen wird, gibt es keine Möglichkeit, dafür zu sorgen, dass getroffene Entscheidungen auch tatsächlich von den Individuen eingehalten werden.

Dadurch wird es umso wichtiger, dass bei Entscheidungen ein echter Konsens unter allen Beteiligten herrscht, das alle Meinungen und Bedürfnisse in der Entscheidung Einfluss finden. Dies führt zu einem nächsten Problem des anarchistischen Konsensmodells.

Ein Entscheidungsprozess, in dem die Präferenzen jedes einzelnen Betroffenen beachtet werden sollen, in dem jedem Beteiligten die Gelegenheit gegeben werden muss, den eigenen Standpunkt darzulegen, und danach versucht werden muss, die verschiedenen Standpunkte zu einem konsensfähigen Vorschlag zusammenzufassen, ist in der Regel sehr viel zeitaufwendiger und langwieriger als die bisher üblichen Mehrheitsabstimmungen.

Diese Tendenz wird insbesondere dadurch verstärkt, dass durch die Öffnung des Entscheidungsprozesses durch das Betroffenheitskriterium sehr viel mehr Menschen beteiligungsberechtigt wären als bisher. Abhängig vom Entscheidungsinhalt kann das Zugangskriterium „Betroffenheit“ sogar dazu führen, dass gewisse Entscheidungsszenarien praktisch nicht durchführbar sind, etwa wenn es um Entscheidungen geht, die potenziell die Menschen einer ganzen Region oder gar eines ganzen Kontinents umfassen (z.B. wenn es um das Betreiben eines Kernkraftwerkes geht, die potenziell die Menschen eines ganzen Erdteils bedrohen könnten, wenn es zu einem Super-Gau käme).

Ein direkter Dialog und insbesondere eine Konsensfindung zwischen mehreren Millionen Menschen ist augenscheinlich praktisch nicht umsetzbar.

Zusammenfassend kann man also sagen, dass das anarchistische Konsensprinzip insbesondere im Hinblick auf das „Betroffenheitskriterium“ definitorische und konzeptionelle Schwächen aufweist, die dazu führen, dass das Konzept zumindest bei Entscheidungen, die eine große Anzahl von Menschen betreffen, in seiner jetzigen Form nicht umsetzbar erscheint.

Und auch bei Entscheidungen, die nur relativ wenige Menschen betreffen und nach dem anarchistischen Konsensprinzip getroffen werden könnten, würden die Entscheidungsprozesse langwieriger werden, als dies etwa in Governance-Regimen und Parlamenten bisher der Fall ist. Zusammenfassend kann man also sagen, dass eine Entscheidung zwischen dem anarchistischen Konsensprinzip und herkömmlichen Governance-Regimen eine Entscheidung ist zwischen den beiden Polen „Effektivität“ und „Effizienz“. Während das Erstere unabhängig vom Zeit- und Ressourcenaufwand das Ziel hat, eine möglichst effektive Lösung zu finden, die die Bedürfnisse aller Betroffenen berücksichtigt, zielen letztere darauf ab, eine möglichst effiziente Lösung zu finden, zu deren Findung und Umsetzung ein möglichst niedriger Zeit- und Ressourcenaufwand nötig ist.

Fazit

Wir haben gesehen, dass das anarchistische Konsensprinzip so, wie es bisher ausgearbeitet ist, nur bedingt praxistauglich ist. Trotz der im letzten Kapitel angesprochenen Probleme des anarchistischen Konsensprinzips denke ich jedoch, dass es für die Governance-Forschung lohnenswert sein kann, sich mit diesem Konzept näher auseinanderzusetzen und verschiedene Elemente (ggf. in modifizierter Form) zu übernehmen. Gerade auf kommunaler Ebene wäre es denkbar, dass die Gruppe der „Betroffenen“ einer Entscheidung relativ klar und eindeutig definierbar ist – ich denke hier beispielsweise an den Bau von Spielplätzen und Straßen, an den Aufbau von eher lokal relevanter Infrastruktur (Schulen, Kirchen, Jugendzentren, Parkanlagen etc.).

Sollte es möglich sein, diese Betroffenen eindeutig zu definieren, spricht aus meiner Sicht wenig dagegen, sie an einem Entscheidungsprozess direkter als bisher üblich zu beteiligen, sie also beispielsweise schon in den ersten Planungsphasen eines Projektes nach ihren Wünschen, Vorschlägen und Ideen zu befragen und ihnen die Möglichkeit zu geben, diese selbsttätig und gleichberechtigt in den entsprechenden Planungskomitees zu vertreten, anstatt ihnen wie bisher nur ein Beratungs- und – auf den Rechtsweg beschränktes – Einspruchsrecht zu gewähren.

Es wäre aus meiner Sicht lohnenswert – auch und gerade unter Einbeziehung anarchistischer Forschung und Konzeptideen – in diese Richtung weiterführende Konzepte zu entwickeln und eine Synthese der beiden Konzepte zu erarbeiten, um damit beispielsweise die im Kapitel 2.1. dargelegten Schwächen des Governance-Ansatzes hinsichtlich der demokratischen Legitimation bearbeiten und ausschalten zu können.

Literaturverzeichnis

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Burnicki, Ralf (2003): Anarchismus und Konsens. Univ, Frankfurt am Main.

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Stowasser, Horst (2003):Leben ohne Chef und Staat. Träume und Wirklichkeit der Anarchisten. 3. Aufl. Berlin: Karin Kramer Verlag

1)
Stowasser 2003: S. 39ff
2)
Benz/Dose 2004: 20-21
3)
Benz/Dose 2004: 21ff
4)
Papadopoulos 2004: 230
5)
vgl. Papadopoulos 2004
6) , 7)
Burnicki 2003, S. 46
8)
Burnicki 2003, S. 47
9)
Burnicki 2003, S.47-48
10)
Burnicki 2003, S.43-44
11)
Burnicki 2003, S. 13-14
12) , 13) , 14)
Burnicki 2003, S. 97
15)
Papadopoulos 2004, S. 226
16)
Burnicki 2003, S.129
17) , 18)
Burnicki 2003, S.14
19)
Burnicki 2003, S.130-131
20)
Burnicki 2003, S.88
21)
Burnicki 2003, S. 124
22)
Burnicki 2003, S.132-133
23)
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24)
Burnicki 2003, S. 122-123
25)
Mayntz 2004, S. 46-47
26)
Burnicki 2003, S. 90
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