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Ausgrenzung durch Bildung. Über die Schulreformen der BRD

Einleitung

Die Grundstruktur des Schulsystems der BRD, wie wir es heute kennen, wurde in den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts angelegt. Den Reformen in den 70er Jahren waren seit den 50er Jahren Diskussionen im wissenschaftlichen und politischen Fachdiskurs vorausgegangen. Einer der zentralen Auslöser für die umfassende Reform des Bildungssystems, die im Bundestagswahlkampf 1969 von allen Parteien angekündigt worden war, war eine von Georg Picht 1964 unter dem Titel „die deutsche Bildungskatastrophe“ (Picht 1964) herausgegebene Artikelserie, die nun auch im öffentlichen Diskurs eine große Aufmerksamkeit für dieses Thema hervorrief.

Pichts Kritik fasste die Probleme in prägnanter, teilweise nahezu reißerischer Art und Weise zusammen, vor die der technische Fortschritt der Produktions Verhältnisse die BRD zu Beginn der 1970er Jahre stellte: Neben Aspekten der sozialen Selektivität des Bildungssystems stellte er insbesondere dar, dass der BRD ein Fachkräftemangel bevorstünde, der die Leistungs- und Konkurrenzfähigkeit nachhaltig negativ beeinflussen könnte. Pichts Kritik bildet den Ausgangspunkt dieser Arbeit, deren wichtigste Argumente in Kapitel 2 ausführlich dargelegt werden.

Dass das Interesse an Bildungsthemen außergewöhnlich hoch war, lässt sich daran ablesen, dass im Bundestagswahlkampf 1969 die Debatte um die Reform des Bildungswesens der BRD einen hohen Stellenwert einnahm, obwohl das Thema eigentlich in die Kulturhoheit der Bundesländer fiel. Die drei im Bundestag vertretenen Parteien CDU, SPD und F.D.P. traten mit divergierenden Konzepten für diese anstehenden Reformen an.

Anhand dieser Konzepte lässt sich sehr gut nachvollziehen, in welchem Diskursraum sich die Debatte abspielte, wie also die bundesdeutsche Öffentlichkeit die von Picht skizzierten Probleme konkretisierte und welche Lösungsansätze in den Parteien zur damaligen Zeit denkbar erschienen. Sie werden in Kapitel 3.1. und 3.2. dargestellt und verglichen.

Die Umsetzung der Konzepte wurde in den folgenden Jahren beeinflusst von der Zusammensetzung der jeweiligen Landesparlamente. Abhängig davon, ob eine sozialliberale Koalition aus SPD und F.D.P. oder eine eher konservativ ausgerichtete Regierung unter Beteiligung der CDU die Landesregierung stellte, wurde entweder eher der Versuch unternommen, Gesamtschulen einzuführen, oder das zuvor übliche dreigliedrige Schulsystem weitergeführt und ausgebaut. (Kapitel 3.3.)

Die Auswirkungen der Reformen lassen sich rückblickend als ambivalent beurteilen. Einerseits konnte eine Anhebung des Bildungsniveaus der Bevölkerung erreicht werden (Kapitel 4.1.), andererseits stellt sich das Bildungssystem bis heute als verhältnismäßig sozial selektiv heraus (Kapitel 4.2.).

Einen Erklärungsansatz dafür lieferten Pierre Bourdieu und Jean-Claude Passeron in ihrer soziologischen Analyse über die „Illusion der Chancengleichheit“ (Bourdieu/Passeron 1971). Sie suchen die Gründe darin, dass das Bildungssystem bestimmte Inhalte, Verhaltensweisen und sogar Ausdrucksformen bevorzugt, die Schülerinnen und Schüler aus höheren sozialen Schichten durch ihre Herkunft verinnerlicht haben, während solche aus niedrigeren sozialen Schichten diese erst in der Schule erlernen müssten. Da diese Bewertungskriterien jedoch nicht expliziert und deswegen auch nicht vermittelt würden, würden Schülerinnen und Schüler aus diesen Schichten systematisch benachteiligt. (Kapitel 5)

Wenn dieser Befund stimmt, ergeben sich für die Bewertung der Bildungsreformen der 70er Jahre neue Bewertungskriterien, die für zukünftige Reformen fruchtbar gemacht werden könnten. (Kapitel 6)

Die Kritik

"die deutsche Bildungskatastrophe"

In der Artikelsammlung, die unter dem Namen „die deutsche Bildungskatastrophe“ bekannt wurde und erstmalig 1964 in der Zeitschrift „Christ und Welt“ publiziert wurde, sagte Georg Picht der BRD eine düstere Zukunft voraus, falls in der Bildungspolitik nicht zügig und entschlossen umgesteuert würde:

Bildungsnotstand heißt wirtschaftlicher Notstand. Der bisherige wirtschaftliche Aufschwung wird ein rasches Ende nehmen, wenn uns die qualifizierten Nachwuchskräfte fehlen, ohne die im technischen Zeitalter kein Produktionssystem etwas leisten kann. Wenn das Bildungswesen versagt, ist die ganze Gesellschaft in ihrem Bestand bedroht. Picht 1964: S.17

Picht arbeitet in der Artikelsammlung insbesondere mit quantitativen Argumenten: zum einen stellt er dar, dass andere Industrienationen bedeutend mehr in ihre Bildungssysteme investierten und bedeutend mehr insbesondere höhere Schulabschlüsse pro Jahrgang vorweisen konnten, zum anderen zeigt er auf, dass aufgrund des Bevölkerungszuwaches der BRD selbst der damalige Stand der Beschulung der Bevölkerung nicht aufrecht erhalten werden könne, da in Zukunft Lehrkräfte und Schulgebäude fehlen würden. Deshalb trat er entschieden dafür ein, eine expansive Bildungspolitik zu betreiben.

So rechnet er unter anderem vor, dass in unmittelbarer Zukunft ein massiver Lehrermangel bevorstünde, wenn die Abiturientenzahlen auf dem Stand von 1964 gehalten würden (6,8 % einer Alterskohorte). Er legt dar, dass auf Basis der im Jahr 1964 vorliegenden Planungen und des zu erwartenden Bevölkerungszuwachses der von den Kultusministerien errechnete Bedarf an neuen Lehrern für 1970 nur dann erreicht werden könne, wenn 90 % aller zu erwartenden Hochschulabsolventen das Lehramt wählen. (ebd.: S.22)

Ebenso legt er dar, dass Deutschland im Verhältnis zu anderen europäischen Nationen in Zukunft einen bedeutend kleineren Abiturientenanteil pro Altersjahrgang anstrebte: Während Norwegen und Schweden ca. 22 % eines Jahrgangs bis zum höchsten Schulabschluß bringen wollte, stagnierten die Planungen in Deutschland bei den schon genannten 6,8%. (ebd.: S.25)

Doch nicht nur im Bereich der höheren Abschlüsse, sondern auch bezogen auf den durchschnittlichen Bildungsstand sah Picht die BRD im internationalen Vergleich immer mehr zurückfallen. Diese Einschätzung versuchte er unter anderem damit zu begründen, dass die meisten anderen Industrienationen einen längeren obligatorischen Schulbesuch vorsahen. Während dieser in Deutschland zu dieser Zeit acht Jahre betrug, belief er sich in den meisten anderen Ländern auf mindestens neun, teilweise bis zu zwölf Jahre. Hierin sah er eine große Gefahr für die wirtschaftliche und politische Wettbewerbsfähigkeit mit diesen Ländern.(ebd. S. 24 ff.)

Pichts zweite Argumentationslinie dafür, dass ein Umlenken in der Bildungspolitik stattfinden müsse, bezieht sich auf die individuellen Lebens- und Entwicklungschancen der Bevölkerung der BRD. Für ihn ist Schulpolitik zugleich Sozialpolitik:

In der modernen 'Leistungsgesellschaft' heißt soziale Gerechtigkeit nichts anderes als gerechte Verteilung der Bildungschancen; denn von Bildungschancen hängen der soziale Aufstieg und die Verteilung des Einkommens ab. […] Der gesamte soziale Status, vor allem aber der Spielraum an persönlicher Freiheit, ist wesentlich durch die Bildungqualifikationen definiert, die von dem Schulwesen vermittelt werden sollen. ebd.: S.31

Als Beispiel gibt er hier die Zahl der Schülerinnen und Schüler an, die in den jeweiligen Bundesländern der BRD die mittlere Reife erlangten, die Zugangsvoraussetzung für eine breite Gruppe von Berufen zur damaligen Zeit war. Die Anteile an der Gesamtzahl der Abschlüsse streute im Jahr 1960 zwischen 24 % in Schleswig-Holstein und gerade einmal 5 % im Saarland. Verantwortlich für diese relativ großen Disparitäten zwischen den Bundesländern macht er die sehr unterschiedlichen Prioritätensetzungen der einzelnen Landesregierungen auf dem Gebiet der Bildungspoltik (ebd.: S.30 ff.) sowie generell den unzureichenden Ausbau des Schulwesens in ländlichen Gebieten.

Ein besonderes Hindernis für eine gerechte Verteilung der Bildungschancen macht er in den sogenannten 'Landschulen' aus. So bezeichnet er Volksschulen, die häufig nur eine oder zwei Klassen mit sehr wenigen Schülern gemischten Alters beherbergten, die von einer bis zwei Lehrkräften in allen angebotenen Fächern unterrichtet wurden. Diese „dem vorindustriellen Zeitalter entstammende Schulform“ wurde aus seiner Sicht den Anforderungen, die an ein modernes, auf die industrialisierte Gesellschaft ausgerichtetes Schulsystem gestellt werden, nicht mehr gerecht. (ebd.: S.35 ff)

Darüber hinaus macht Picht noch ein anderes strukturelles Problem aus: Es gäbe zu wenige Schulgebäude und Schulräume, um den zu erwartenden steigenden Bedarf abzudecken. Demnach seien massive Investitionen in die Neuerrichtung von Schulgebäuden notwendig, um der steigenden Schülerzahl gerecht werden zu können. Diese Investitionen sollten nach Vorbild anderer Industrienationen so getätigt werden, dass insbesondere im ländlichen Bereich Schulzentren errichtet würden, die es ermöglichten, Schülerinnen und Schüler aus den ländlichen Gebieten an mehrzügigen, nach Alterskohorte aufgeteilten Klassen unterrichten zu können. (ebd.: S.40)

Lösungskonzepte der Parteien

Im folgenden werden die Lösungskonzepte der damals tonangebenden Parteien CDU, SPD und F.D.P. für die von Picht dargelegten Probleme des damaligen Bildungssystems nebeneinandergestellt. Dabei wird herausgearbeitet, worin sie sich einig waren (Kapitel 3.1.), an welchen Stellen ein Dissens herrschte (Kapitel 3.2.), und wie die unterschiedlichen Konzepte in den Folgejahren in den Bundesländern umgesetzt wurden. (Kapitel 3.3.)

Konsensuale Ziele aller Parteien

Die Reform und der Ausbau des Bildungssystems wurde von allen drei Parteien mit ähnlichen Begründungsmustern gerechtfertigt. Diese lassen sich grob in drei Argumente aufteilen:

  1. Aus dem im Grundgesetz verankerten Recht auf „freie Entfaltung der Persönlichkeit“ wird das „Recht auf Bildung“ abgeleitet - zur freien Entfaltung der Persönlichkeit gehörte für alle drei Parteien der uneingeschränkte und gleichberechtigte Zugang zu Bildung und Bildungsinstitutionen.
  2. Die Herstellung von „Chancengleichheit“ der Bürger untereinander sollte erreicht werden. Die Schule sollte es Bürgerinnen und Bürgern ermöglichen, sich gemäß ihren individuellen Fähigkeiten und Interessen zu entfalten und einen entsprechenden Platz in der Gesellschaft zu finden. Diese Zuteilung gesellschaftlicher Chancen und Positionen sollte leistungsgerecht sein, d.h. allein die individuelle Leistungsfähigkeit und -bereitschaft sollen über den individuellen (Schul-)Erfolg entscheiden, nicht etwa geographische oder soziale Herkunft, Geschlecht, Konfession etc.
  3. Die Konkurrenzfähigkeit Deutschlands mit anderen Industrienationen sollte aufrecht erhalten werden. Die Anpassungsbereitschaft und Leistungsfähigkeit der Bevölkerung an sich wandelnde Produktionsbedingungen sollte gewährleistet und erhöht werden, um im internationalen Vergleich mithalten zu können.

Diese Argumentationsmuster lassen sich in jedem der Wahlprogramme der drei Parteien auffinden, jedoch in unterschiedlicher Gewichtung und Deutlichkeit. Sowohl die F.D.P. als auch die CDU beziehen sich auf das im Grundgesetz verankerte Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit. Die F.D.P. leitet aus diesem Grundrecht ihre gesamten Überlegungen zur Reform des Bildungssystems ab und bezieht sich im ersten Absatz ihres Programms von 1969 auf diesen Artikel des Grundgesetzes:

Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland verbürgt jedem 'das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit' (Artikel 2). Damit muss bereits in der Schule ernstgemacht werden. Deshalb will die F.D.P. die Offene Schule. Die offene Schule - Konzept einer Schulreform der F.D.P.

Auch die CDU bezieht sich im zweiten Absatz der Präambel ihres Programms auf denselben Grundgesetz-Artikel, indem sie ihn in der eigenen Argumentation paraphrasiert:

„Bildung ist ein Grundrecht jedes Menschen. Jeder muss die Möglichkeit haben, seine Persönlichkeit seinen Fähigkeiten und Neigungen entsprechend frei zu entfalten“ Schule und Hochschule von morgen - Leitsätze der Christlich-Demokratischen Union Deutschlands

Allerdings wird hier auch schon der Unterschied zwischen den Begründungslinien der F.D.P. und der CDU deutlich. Während die F.D.P. in ihrer Argumentation deutlich darauf abzielt, die freie Entfaltung des Individuums in den Mittelpunkt zu stellen, versteht die Union ihre Bildungspolitik als den Versuch, sowohl die Entfaltungsmöglichkeiten des Einzelnen zu fördern, als auch die Leistungsfähigkeit der Gesellschaft insgesamt aufrecht zu erhalten. Dies ist daran zu erkennen, dass diesem Absatz folgender Absatz vorangestellt ist:

Bildung und Ausbildung bestimmen die Entfaltungsmöglichkeiten des einzelnen und sind Grundlage für die Leistungsfähigkeit der Gesellschaft. Schule und Hochschule von morgen - Leitsätze der Christlich-Demokratischen Union Deutschlands

Für die SPD hingegen scheint das Recht auf freie Entfaltung des Individuums beim Entwurf ihres Programms einen untergeordneten Stellenwert eingenommen zu haben. Auch sie stellten in ihrem Programm den Bezug zu Befähigungen und Interessen her, jedoch erst im späteren Verlauf ihres Programms im Kontext ihres Entwurfs einer Gesamtschule, die mittelfristig das dreigliedrige Schulsystem ablösen soll.(vgl. Modell für ein demokratisches Bildungswesen)

Der Schwerpunkt der SPD liegt jedoch im Ziel der Herstellung der 'Chancengleichheit' zwischen den Bürgern. In ihrem Konzept geht es in erster Linie darum, Benachteiligungen auszugleichen oder zu beseitigen, die durch unterschiedliche soziale und regionale Herkunft entstehen, wie beispielsweise zu kleine Grundschulen, die wegen ihrer Größe eine bestimmte Fächervielfalt nicht gewährleisten können, oder eine zu frühe Selektion auf die drei bestehenden Schulformen, der sie mit der Einführung der Gesamtschule entgegenwirken wollen. (ebd.)

Das Ziel 'Chancengleichheit' taucht auch in den Konzepten von CDU und F.D.P. auf, wird in beiden Konzepten jedoch weit weniger stark betont. Im Konzept der CDU wird „Chancengleichheit“ verstanden als notwendige Voraussetzung für eine „demokratische Sozialordnung“, sie wird sogleich verknüpft mit dem Gedanken der „Leistung“, die unterschiedliche Positionen innerhalb dieser Sozialordnung rechtfertigt und legitimiert.(vgl. Schule und Hochschule von morgen - Leitsätze der Christlich-Demokratischen Union Deutschlands) Für die F.D.P. ist die freie Entfaltung der Persönlichkeit eng mit der Verwirklichung von Chancengleichheit verknüpft, beides wird aus ihrer Sicht durch ihre Idealvorstellung einer „offenen Schule“ verwirklicht.(vgl. Die offene Schule - Konzept einer Schulreform der F.D.P.)

Grundsätzlich einig waren sich die drei Parteien zudem darüber, dass das Schulsystem nach wie vor grundsätzlich in drei klar voneinander unterscheidbare Abschnitte eingeteilt werden sollte - die Grundstufe inklusive Orientierungsphase (1. bis 4. bzw. 6. Schuljahr), die Mittelstufe (7. -10. Schuljahr) und die Oberstufe bzw. berufsbildende Schule (11. bis maximal 13. Schuljahr). Einigkeit herrschte auch darüber, dass es einen obligatorischen Grundkanon von Schulfächern bzw. Inhalten geben müsse, die alle Schülerinnen und Schüler gemeinsam erlernen müssten, um grundsätzlich für die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ausreichend qualifiziert zu sein.

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass sich die Parteien grundsätzlich - wenn auch mit jeweils anderen Schwerpunktsetzungen - über die drei oben genannten Zielsetzungen einig sind, sowie über die Länge des Schulbesuchs, seine Einteilung in drei klar voneinander abgrenzbare Stufen, und darüber, dass es einen gemeinsamen Grundkanon von Inhalten geben müsse, den alle Schülerinnen und Schüler lernen.

Umstrittene Ziele der Parteien

Trotz dieses scheinbaren Konsens, was die Zielsetzungen angeht, herrschte Uneinigkeit darüber, wie die Reformen ausgestaltet werden sollten.

Diese Uneinigkeit drückte sich aus in drei unterschiedlichen Ideen dazu, wie das Schulsystem in Zukunft strukturiert sein sollte. Die CDU trat dafür ein, dass althergebrachte, dreigliedrige Schulsystem in seiner Grundstruktur beizubehalten: Weiterhin sollte es eine Hauptschul , eine Realschule und das Gymnasium geben. (vgl. Schule und Hochschule von morgen - Leitsätze der Christlich-Demokratischen Union Deutschlands)

Dieses Konzept nannten sie die „gegliederte Leistungsschule“. Damit das „Leistungsprinzip […] stärker zu Geltung gebracht“ werden könne, sollte ab der Mittelstufe der Unterricht an allen Schulformen teils in Kernfächern, teils in Kursform (also nach Wahlschwerpunkten aufgeteilt) abgehalten werden, ohne jedoch die Einteilung in Klassen aufzugeben. (vgl. Schule und Hochschule von morgen - Leitsätze der Christlich-Demokratischen Union Deutschlands)

Die SPD trat dafür ein, das bisherige dreigliedrige Schulsystem mittelfristig in ein eingliedriges Schulsystem zu überführen: die Gesamtschule. Die Schülerinnen und Schüler sollten nicht mehr wie bisher nach der Grundschule auf die drei verschiedenen Schulformen aufgeteilt werden, sondern bis zum Ende der 10. Klasse auf einer gemeinsamen Schule verweilen. Genau wie die CDU waren die Sozialdemokraten grundsätzlich dafür, die Aufteilung in Klassen für den Unterricht in den Kernfächern beizubehalten, traten jedoch gleichzeitig dafür ein, dass die meisten Unterrichtseinheiten in Kursform abgehalten werden, die Leistungsstand und Interessen der Schülerinnen und Schüler berücksichtigen. Es sollte also im Gegensatz zum Konzept der CDU sowohl die Möglichkeit bestehen, nach individuellen Fähigkeiten zu differenzieren - etwa in manchen Fächern „Leistungskurse“, in anderen „Förderkurse“ zu belegen - als auch die Möglichkeit, bestimmte Fächer je nach Interesse an- bzw. abzuwählen.(vgl. Modell für ein demokratisches Bildungswesen)

Die F.D.P. trat mit dem Konzept der „Offenen Schule“ an. Dieses Konzept sah vor, sowohl das dreigliedrige Schulsystem, als auch die Einteilung in Jahrgangsklassen größtenteils zugunsten einer „Offenen Schule für alle“ aufzugeben. Lediglich ein verbindlicher Kernunterricht sollte beibehalten werden. Der Großteil des Fachunterrichts hingegen sollte - offen für alle Jahrgangsstufen - auf unterschiedlichen Niveaus und in unterschiedlichem Tempo angeboten werden, um den individuellen Interessen und Voraussetzungen der Schüler gerecht werden zu können. Auch sollte den Schülerinnen und Schülern frühzeitig ermöglicht werden, sich auf bestimmte Fachgebiete zu spezialisieren.(vgl. Die offene Schule - Konzept einer Schulreform der F.D.P.)

Es wird deutlich, dass die drei Parteien Konzepte vorlegten, die zwar an einigen Punkten Kompromisspotenzial offenbarten, sich an anderer Stelle jedoch diametral gegenüberstanden.

Umsetzung der Konzepte

Die Bundestagswahl 1969 konnten SPD und F.D.P. für sich entscheiden, sie bildeten eine sozialliberale Koalition unter Bundeskanzler Willy Brandt. (vgl. bpb 2005) https://www.bpb.de/politik/wahlen/bundestagswahlen/62559/bundestagswahlen-1949-2009) Der Ausgang der Bundestagswahl hatte jedoch nur bedingt Auswirkungen auf die konkreten Umsetzungen der Reformvorhaben, weil damals wie heute die Ausgestaltung des Bildungssystems weitgehend in den Händen der Länderparlamente lag. So entwickelte sich in den Bundesländern der BRD ein Nebeneinander verschiedener Reformansätze, abhängig davon, welche Parteien in den Landesparlamenten die Mehrheit erringen konnten und somit die jeweilige Landesregierung stellten (vgl. Führ 1998: S. 17f).

Die sozialliberal geführten Bundesländer forcierten die Einführung von Gesamtschulen, welche paralell zum herkömmlichen, dreigliedrigen Schulsystem eingeführt wurden. In den unionsgeführten Bundesländern verließ man sich ausschließlich auf das dreigliedrige Schulsystem.

Das von der F.D.P. vertretene Konzept der „offenen Schule“ konnte sich nicht durchsetzen, die Schülerinnen und Schüler wurden auch weiterhin primär nach Alterskohorten gestaffelt in allen Fächern gemeinsam unterrichtet. Die Idee, Schülerinnen und Schülern Wahlmöglichkeiten je nach Interessen und Leistungsvermögen zu eröffnen, wurde jedoch teilweise umgesetzt. An Gesamtschulen haben Schülerinnen und Schüler z.B. in NRW die Möglichkeit, in den Fächern Mathematik und Englisch in den Jahrgangsstufen 7 bis 9 zwischen einem „Grundkurs“ und einem „Erweiterungskurs“ zu wählen. In NRW wählen sie zudem ab dem 6. (Gesamtschule), 7. (Realschule) oder 8. Schuljahr (Gymnasium) nach ihren Interessen aus verschiedenen Kursen, die an ihrer Schule im „Wahlpflichtbereich“ angeboten werden.

Bis heute bestehen die Konzepte des dreigliedrigen Schulsystems und der Gesamtschule nebeneinander und sind weiterhin umstritten. Keines der beiden Konzepte konnte sich bundesweit durchsetzen. Welches der beiden Konzepte jeweils mehr gefördert wird, hängt weiterhin von (wechselnden) Mehrheiten in den jeweiligen Landesparlamenten ab.

Wirkungen der Bildungsreform

Die Reformbemühungen der 1970er Jahre führten unbestreitbar zu einer flächendeckenden Umwälzung und Ausweitung des Bildungssystems der BRD. Doch führten sie auch zu nachweisbaren Erfolgen? Konnten die Ziele und Hoffnungen, die mit der Reform verbunden waren, eingelöst werden? Am Maßstab der erreichten höheren Bildungsabschlüsse lässt sich überprüfen, ob das Ziel einer Anhebung des Bildungsstands der Bevölkerung erreicht werden konnte - das Ziel der Chancengleichheit kann man anhand der sozialen Herkunft der Absolventen höherer Bildungsabschlüsse bemessen.

Quantitative Entwicklung der Schulabschlüsse im Zeitverlauf

Trotz unterschiedlicher Reformkonzepte kam es in allen Bundesländern zu einer stetig wachsenden Anzahl höherer Abschlüsse. Diese Entwicklung, die schon Mitte der 50er Jahre - und damit weit vor der in dieser Arbeit im Fokus stehenden Reformdebatte der 70er Jahre - begonnen hatte, entwickelte nun eine Dynamik, die dazu führte, dass bereits für die Alterskohorte, die in den Jahren 1955-1960 geboren wurde, der Realschulabschluss den Hauptschulabschluss als Regelabschluss ablöste. Auch die allgemeine Hochschulreife konnten immer mehr Schülerinnen und Schüler erreichen. Ab der Alterskohorte, die in den Jahren 1975-1980 geboren wurde, war das Abitur jener Abschluss, der von der Mehrzahl der Absolventen erreicht wurde. (vgl. Abbildung 1) Abbbildung 1

Zweifelsohne hatten die Reformen somit einen positiven Effekt auf den allgemeinen Bildungsstand der Bevölkerung - es entstand ein stetig anhaltender 'Bildungsboom', der dem von Picht befürchteten Fachkräftemangel und der damit einhergehenden Gefahr, im internationalen Vergleich nicht mehr konkurrenzfähig zu sein, entgegenwirken konnte. Deutschland entwickelte sich zu einer 'Wissensgesellschaft', die sich in einer globalisierenden Weltgemeinschaft behaupten konnte, obwohl das Land nur über wenige natürliche Ressourcen verfügt.

soziale Selektivität

Doch von diesem Erfolg der Reformen profitierten nicht alle Bevölkerungsschichten in gleichem Maße. Denn dadurch, dass erst der Realschulabschluss, später dann das Abitur zum Regelabschluss wurde, erfuhren niedrigere Abschlüsse eine systematische Abwertung. Während zu Beginn der 50er Jahre der Hauptschulabschluss ausreichte, um in den meisten Berufen eine Lehre anzufangen und einen Beruf zu erlernen, wurde in den folgenden Jahrzehnten in immer mehr Berufen der Realschulabschluss oder gar das Abitur zur Mindestanforderung, um eine Lehrstelle zu erlangen.

Diese Entwicklung erhält eine besondere Dramatik, weil das Bildungssystem der BRD entlang verschiedener sozialer Kategorien sozial sehr selektiv wirkt. So haben beispielsweise Menschen mit niedrigem sozioökonomischem Status und Menschen mit Migrationshintergrund bedeutend kleinere Chancen, einen höheren Bildungsabschluss zu erlangen, als Menschen mit mittlerem bzw. hohem sozioökonomischem Status. (vgl. Abbildung 2)

Abbildung 2

Die soziale Mobilität innerhalb der Gesellschaft hat sich also trotz 'Bildungsboom' nicht bedeutend erhöht - das gesetzte Ziel der herkunftsunabhängigen 'Chancengleichheit' konnte nicht erreicht werden.

Warum ist das Bildungssystem selektiv? - Ein soziologischer Erklärungsansatz

Dieser Befund hat sich in der erziehungswissenschaftlichen Forschung trotz aller Reformbemühungen der vergangenen Jahrzehnte in den vergangenen vierzig Jahre nicht grundlegend verändert.(vgl. OECD 2015)

Pierre Bourdieu und Jean-Claude Passeron haben mir ihrem Werk „Die Illusion der Chancengleichheit“ (Bourdieu/Passeron 1971) eine soziologische Analyse veröffentlicht, die Erklärungsansätze für dieses Phänomen liefert.

Bourdieu und Passeron sehen den Grund dafür darin, dass das Bildungssystem nicht nur die Funktion hat, Menschen die Möglichkeit zu bieten, sich Wissen und Fähigkeiten anzueignen - es hat auch die Funktion, die Zuteilung gesellschaftlicher Positionen und den damit verbundenen unterschiedlichen Zugriff auf gesellschaftliche Ressourcen zu legitimieren. (vgl. Bourdieu/Passeron 1971, S.209ff)

Die erreichte Position des Individuums in der Gesellschaft wird zurückgeführt auf Eigenschaften und Entscheidungen, die es in der Schule offenbart und getroffen hat. Wenn ein bestimmtes Bildungsniveau nicht erreichen konnte, dann liegt dies laut gängiger Klischeevorstellungen einzig und allein in ihrer/seiner eigenen Verantwortung - sie/er war schlicht zu unbegabt (oder zu „faul“), um einen höhere Position zu erreichen. (vgl. Bourdieu/Passeron 1971, S. 85ff) 1)

Bourdieu und Passeron bezeichnen diesen Begründungszusammenhang als „Begabungsideologie“. (vgl. Bourdieu/Passeron 1971, S. 86) Die Ursache für gesellschaftliche Ungleichheiten wird allein in Gründen gesehen, die im individuum liegen. Damit wird zugleich jeder andere Erklärungsansatz für diese Ungleichheiten delegitimiert, die Verfasstheit der Gesellschaft gegen jegliche Form der Kritik immunisiert. Damit ist jedoch noch nicht geklärt, wie es dazu kommen kann, dass Menschen aus Familien mit mittlerem und hohem sozioökonomischem Status im Vergleich mit Menschen aus Familien mit niedrigem sozioökonomischem Status überdurchschnittlich häufig bessere Abschlüsse erreichen.

Bourdieu und Passeron sehen den Grund dafür in Bewertungsmaßstäben der Lehrenden, die weder explizit ausgesprochen noch gelehrt werden. Der Sprachstil, der Geschmack, die Vorkenntnisse und Verhaltensweisen - also das, was Bourdieu auch in späteren Arbeiten unter dem über die soziologische Fachsprache hinaus populär gewordenen Begriff des „Habitus“ subsummiert - welche in den höheren Gesellschaftsschichten 'üblich' sind, fließen als Maßstab in die Bewertung und Benotung der Lehrenden mit ein. (vgl. Bourdieu/Passeron 1971, S. 37ff) Der Habitus der oberen Schichten wird als 'brilliant' eingestuft, der Habitus der unteren Schichten als 'gewöhnlich', 'mittelmäßig' herabgesetzt.(vgl. Bourdieu/Passeron 1971, S.102)

So entsteht ein System, das sich - trotz aller äusseren Veränderungen und Reformen - selbst reproduziert und perpeduiert. Denn die Positionen der Gesellschaft, die für die Bewertung der jeweils nächsten Generation zuständig sind, zum Beispiel Lehrer und Professoren, werden systematisch von Menschen aus der Mittel- und Oberschicht besetzt, die wiederum die gleichen Bewertungsmaßstäbe ansetzen, nach denen sie selbst 'legitim' an ihre gesellschaftliche Postion gekommen sind. (vgl. Bourdieu/Passeron 1971, S. 212ff)

Fazit

Die Arbeit konnte zeigen, dass in der BRD eine allgemeine Erhöhung des Bildungsstands der Bevölkerung erreicht werden konnte. Diese Erhöhung wurde dadurch erreicht, dass ernorme finanzielle Anstrengungen unternommen wurden, um das quantitative Bildungsangebot zu erhöhen. Strukturelle Veränderungen des Aufbaus der Schulen haben dazu geführt, dass wesentlich mehr Schülerinnen und Schüler mittlere und höhere Schulabschlüsse erlangen konten, als dies vor der Reform der Fall war. Das Ziel, Deutschland im internationalen Vergleich konkurrenzfähig zu erhalten, konnte dadurch erreicht werden.

Kritischer betrachten muss man jedoch, ob sich das Ziel der Chancengleichheit erreicht werden konnte. Denn auch heute noch bestimmt die soziale Herkunft entscheidend mit, wie groß die Chancen des Individuums sind, Zugang zu höheren Bildungsinstitutionen zu erhalten.

Bourdieu uns Passeron erklären diese unterschiedlichen Chancen damit, dass in der Schule auf sowohl auf der Ebene der Vermittlung von Inhalten als auch auf der Ebene der Bewertung von Leistungen strukturelle Hindernisse für Schülerinnen und Schüler aus bildungsfernen Schichten bestehen, sich gemäß ihren individuellen Fähigkeiten und Interessen zu entfalten. Die Zuteilung gesellschaftlicher Chancen und Positionen erfolgt nicht anhand einer „objektiven“ Beurteilung der individuellen Leistungsfähigkeit und -bereitschaft. In die Bewertung fließen auch schichtspezifische Merkmale ein, wie etwa ein virtuoser Umgang mit in bildungsnahen Herkunftsfamilien gesprochener Sprache und ein entsprechender Habitus - ohne das diese Anforderungen in der Schule jedoch expliziert oder gar gelehrt werden.

Wenn man Bourdieu und Passeron folgen will, haben die Parteien demnach letztlich über die falsche Frage gestritten. Denn die Frage, ob das ein- oder dreigliedrige Schulsystem besser dazu geeignet ist, Chancengleichheit herzustellen, ist im Lichte deser Analyse weniger relevant, als die Frage, wie innerhalb des Bildungssystems gelehrt und bewertet wird, um eben jene herzustellen.

Wenn Bourdieu & Passeron recht haben mit ihrer Analyse, das das Bildungssystem durch diese „verdeckten“ Mechanismen Menschen unterer Schichten systematisch benachteiligt, sollte dies zu einer Neubewertung der im Bildungssystem angelegten Maßstäbe führen.

Darüber hinaus führt sie auch zu der grundsätzlichen Frage, ob die Funktionsverpflechtung von Lern-/Sozialisationsort einerseits und „Chancenzuteilungsinstanz“ andererseits innerhalb der einzelnen Bildungsinstitutionen sinnvoll angesiedelt ist.

Wenn es stimmt, das die Bewertungsinstanzen (Lehrer, Professoren) in ihre Bewertungen auch das Auftreten, die Herkunft, das Geschlecht der zu Bewertenden mit einfliessen lassen, muss man darüber nachdenken, ob es Wege gibt, Bewertungsmaßstäbe zu objektivieren und sie so zu operationalisieren, dass sie möglichst weitgehend von dieser Fehlerquelle bereinigt sind.

Diese Frage jedoch war kaum Inhalt des Diskurses um die Bildungsreform der 1960er bis 1970er Jahre, und auch heute wird die Funktion des Bildungssystems, Bewertungen und damit Abschlüsse zu produzieren, selten in Frage gestellt. Die „Chancengleichheit“ innerhalb des Bildungssystems wird postuliert, die vom Bildungssystem zugeteilten Lebenschancen werden als „legitim“ dargestellt, obwohl „Chancengleichheit“ nachweislich nicht hergestellt ist.

1)
Das diese „Ideologie“ auch heute noch relevant ist, lässt sich sehr eindrucksvoll mit der aktuellen Aussage eines Spitzenpolitikers der CDU, Peter Tauber, illustrieren: „Wenn sie was ordentliches gelernt haben, dann brauchen sie keine drei Minijobs.“ (https://twitter.com/NiemaMovassat/status/881996659881803776/photo/1
/hp/ag/af/zd/www/data/pages/offen/nutzer/benjamin_bettinger/werke/ausgrenzung_durch_bildung.txt · Zuletzt geändert: 2020/04/30 19:12 von benni