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Das „doppelte Mandat“ in der Sozialen Arbeit

Einleitung

Für das Berufsfeld der Sozialen Arbeit ist „Hilfe“ ein zentraler Begriff, er kommt sowohl in der Bezeichnung vieler Arbeitsbereiche der Sozialen Arbeit als auch in der Fachliteratur zum Thema Soziale Arbeit immer wieder vor. Der Begriff der Hilfe verweist auf eine Zugewandheit dem Klienten gegenüber, auf den Versuch, seine individuellen Bedürfnisse zu berücksichtigen und ihn dabei zu unterstützen, diese Bedürfnisse zu befriedigen.

Der Klient ist jedoch in der Regel nicht der „Auftraggeber“ der pädagogischen Fachkraft - diese Position übernimmt der Arbeitgeber, und das ist je nach Einrichtung die Kommune und/oder eine gemeinnützige Organisation, und damit im weitesten Sinne „Die Gesellschaft“. Der pädagogischen Fachkraft fällt damit ein „doppeltes Mandat“ zu: Sie muss zum einem im Sinne ihres Klienten, und zum anderen im Sinne ihres Auftraggebers handeln. Das bedeutet, sie muss vermitteln zwischen den Bedürfnissen und des Klienten einerseits und den Anforderungen der Gesellschaft andererseits. Zur helfenden und unterstützenden Funktion kommt der pädagogischen Fachkraft in der Sozialen Arbeit also auch eine kontrollierende und ggf. sanktionierende Funktion zu. Sie gerät dadurch in ein mitunter konfliktbehaftetes Spannungsverhältnis zwischen Klient und Gesellschaft. Der Umgang mit diesem Spannungsverhältnis wird im sozialpädagogischen Fachdiskurs kontrovers diskutiert.

Ziel dieser Arbeit ist es, einzelne Aspekte dieses Diskurses ausführlicher vorzustellen (Kapitel 2) und zu überprüfen, ob und in welcher Weise diese Aspekte für Beschäftigte in verschiedenen Bereichen der Sozialen Arbeit eine Rolle spielen.

Dabei wird der Fokus zum einen auf der Frage liegen, welche Erwartungen von Seiten der Gesellschaft an die Soziale Arbeit bestehen und wie diese Erwartungen in das Selbstbild der dort beschäftigten Sozialpädagogen Einfluss findet (Kapitel 2.1.), und zum anderen auf der Frage, welche psychologische Funktion die Sanktion für die Strafenden hat (Kapitel 2.2.).

Danach wird anhand von zwei Interviews mit pädagogischen Fachkräften überprüft, welche Relevanz die in der Fachliteratur zu findenden Aspekte des Spannungsverhältnisses zwischen Hilfe und Sanktion im Arbeitsalltag der Pädagogen haben (Kapitel 3). Exemplarisch werden hier das Tätigkeitsfeld der Wohnungslosenhilfe (Kapitel 3.1.) sowie das Tätigkeitsfeld Jugendamt (Kapitel 3.2.) beleuchtet.

Abschließend wird im Fazit eine Bilanz gezogen, welchen Einfluss der Fachdiskurs auf das professionelle Selbstbild und die konkrete Praxis der befragten Pädagoginnen hat. (Kapitel 4)

Das Verhältnis zwischen Hilfe und Sanktion im Fachdiskurs

Wie bereits erwähnt ist das Feld der sozialen Arbeit geprägt durch ein sogenanntes „Doppeltes Mandat“. Zum einen sind die dort tätigen PädagogInnen ihren Klienten verpflichtet, in deren Sinne und zu deren Nutzen sie handeln müssen und sollen. Zum anderen haben werden ihnen seitens „der Gesellschaft“ Anforderungen und Rahmenbedingungen vorgegeben, beispielsweise durch Dienstabsprachen, Budgetvorgaben, Weisungen und Gesetze. Die Tätigkeiten, die sie im Sinne ihrer Klienten verrichten sind in der Regel eher Hilfen, Beratungen, Unterstützungen. Die Tätigkeiten, die sie im Sinne der Gesellschaft verrichten sind hingegen häufig eher kontrollierende und sanktionierende Tätigkeiten. Sie haben einerseits die Aufgabe, den Klienten dabei zu helfen, ihre Rechten und Bedürfnissen in der Gesellschaft Geltung zu verschaffen, und andererseits die Aufgabe, die Klienten anhand von Normen und Gesetzen zu beurteilen und davon abweichendes Verhalten ggf. zu sanktionieren, bzw. andere Teilsysteme der Gesellschaft wie etwa das Justizsystem bei der Durchsetzung dieser Normen zu unterstützen.

Im sozialpädagogischen Fachdiskurs wird dieses doppelte Mandat und das damit verbundene Verhältnis zwischen Hilfe und Strafe unter vielen Gesichtspunkten kontrovers diskutiert. Im Rahmen dieser Arbeit sind zwei Aspekte von besonderem Interesse. Zum einen scheint es, das der Wandel der Gesellschaft von einem „Sozialstaat“ hin zu einem „aktivierenden Staat“ die Erwartungen an die soziale Arbeit und damit auch das Selbstbild der in diesem Bereich Arbeitenden PädagogInnen maßgeblich beeinflusst. Zum anderen hat die Sanktion aus psychologischer Sicht für die strafenden SozialarbeiterInnen die Funktion, mit den ambivalenten Gefühlen, die das abweichende Verhalten ihrer Klienten in ihnen auslöst, auf sie selbst entlastende Weise umzugehen.

Gesellschaftliche Integration durch Hilfen und Sanktionen

Für die soziale Arbeit ist „Hilfe“ ein zentraler Begriff. Dies drückt sich schon allein darin aus, dass viele Tätigkeitsfelder der sozialen Arbeit das Wort „Hilfe“ in ihrem Namen tragen, wie z.B. die „Jugendhilfe“ oder die „Wohnungslosenhilfe“. Den Fachdiskurs bestimmte die Hilfe als zentrale Aufgabe und wichtigstes Ziel der sozialen Arbeit. Die pädagogischen Fachkräfte sehen sich selbst häufig als „Helfer“ ihrer Klienten, die sie unterstützen wollen ein selbstbestimmtes Leben zu führen.(vgl. Huber/Schierz 2013, S. 102)

Allerdings wird diese Beschreibung der sozialen Arbeit allein als „helfende Struktur“ auch kritisch gesehen. spätestens seit Ende der 1960er Jahre kommen soziologische Analysen zu dem Schluss, dass die Soziale Arbeit auch einen gesellschaftlichen Kontrollauftrag hat, dass es bei der sozialen Arbeit auch darum geht, mittels sozialer Kontrollmechanismen Menschen, deren Verhalten von den gesellschaftlich erwünschten Normvorstellungen abweichen, in diese wieder zu 'integrieren'. (vgl. Huber/Schierz 2013, S. 103)

Obwohl die Soziale Arbeit sich damit teilweise eine Funktion mit dem Justizystem teilt - Die Kontrolle und Durchsetzung sozialer Normen und Gesetze - kann man die Soziale Arbeit nicht mit dieser gleichsetzen. Die soziale Arbeit ist vielmehr dem Justizsystem vor- bzw. nachgelagert. Ihre Aufgabe und ihr Selbstverständnis ist es, mittels Beratung, Behandlung, Therapie einzugreifen, bevor es zu strafrechtlich relevanter Abweichung kommt, bzw. bei der Reintegration von schon straffällig gewordenen Klienten das Verhalten dieser so anzupassen, dass sie nicht noch einmal strafbare Handlungen begehen.

Die Soziale Arbeit versucht im Gegensatz zur Justiz nicht, eine „Schuld“ zuzuweisen um damit eine Bestrafung zu rechtfertigen. Sie sucht die Gründe für abweichendes Verhalten unter anderem in problematischen Lebensbedingungen, Entwicklungsdefiziten, disfunktionalen Handlungsreportoirs etc. die mit sozialpädagogischen Mitteln identifizier- und veränderbar sind. Aus dieser Perpektive macht es wenig Sinn, abweichendes Verhalten primär mit Sanktionen zu beantworten.(vgl. Huber/Schierz 2013, S. 104f)

Einige Autoren machen jedoch darauf aufmerksam, dass dieses „Soziale-Probleme-Deutungsmuster“ und eine damit verbundene sanktionskritische Haltung unter den Pädagogen, die in der Praxis tätig sind, an Bedeutung eingebüßt hat. Empirische Erhebungen machen deutlich, das viele von ihnen andere Erklärungsmuster vorziehen, zum Beispiel „dass die Ursache der Probleme ihrer Klientel darin bestehe, 'dass diese einfach keine Lust dazu haben, Verantwortung für ihr Leben zu übernehmen'.“(Scherr/Ziegler 2013, S.120) Dies führt unter anderem dazu, das viele von ihnen sich größere Sanktionsmöglichkeiten wünschen, um mit dem abweichenden Verhalten ihrer Klienten umzugehen. (vgl. Scherr/Ziegler 2013, S.120ff)

Diese Veränderung von einer die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen als Ursache fokussierenden Sichtweise hin zu der Annahme, das die Klienten selbst maßgeblich die „Schuld“ tragen an ihrem abweichenden Verhalten wird auf verschiedene Arten erklärt. Als ein wichtiger Grund wird angesehen, das dass Selbstbild der Gesellschaft sich verändert habe. Während sie sich in den 1960 und 1970er Jahren als „pluralisiert und entwicklungsoffen“ charakterisiert, nimmt sie sich heutzutage eher als „krisenhaft“ wahr.(vgl. Scherr/Ziegler 2013, S.130) Die daraus entstehende Verunsicherung fördere eine „Orientierung auf die Sicherung des gesellschaftlichen Zusammenhalts durch die Durchsetzung einer konsensuellen normativen Ordnung“(Scherr/Ziegler 2013, S.130). Abweichende Individuen gelten nun „nicht mehr als uns selbst ähnliche Gesellschaftsmitglieder, deren Schicksal wir verstehen können, sondern als kranke oder böse Subjekte, welche die Gesellschaft bedrohen und vor den wir uns zu schützen haben.“(ebd.:130) Der Fokus liegt dadurch nicht mehr auf den Klienten, die durch die Gesellschaft geprägt werden, sondern auf einer „Gemeinschaft der Rechtschaffenen“, die vor den Abweichenden geschützt werden müsse. Die Abweichler werden als Antagonisten einer zu schützenden Gesellschaft dargestellt, als „die ‚Anderen’, als gefährliche bzw. moralisch verwerfliche Individuen“(ebd.:131).

Diese Darstellung von abweichenden Individuen als die „Anderen“, die „Bösen“ habe jedoch nicht nur eine Gemeinschaft stiftende und stärkende Funktion für eine als in ihrer Integrität bedroht wahrgenommene Gesellschaft, sie hat darüber hinaus auch für die strafenden Individuen selbst eine psychologisch stabilisierende Funktion.

Die psychologische Funktion der Sanktion für die Strafenden

Laut Mario Erdheim (2013) haftet abweichenden, also verbotenen Handlungen immer eine gewisse Ambivalenz an - sie üben auf das Individuum eine Faszination und Anziehungskraft aus, gerade weil sie verboten sind:

Menschen tun nicht immer, was sie sollten - Tun und Sollen decken sich nicht von selbst und seit jeher stellt sich die Frage, wie Tun und sollen zur Übereinstimmung gebracht werden können. Dabei taucht eine schon immer bekannte Schwierigkeit auf: Wenn das, was man nicht tun sollte, verboten wird, kommt ein unheimlicher Mechanismus zur Wirkung. Was verboten wird, übt auf den Menschen eine gewisse Faszination aus und reizt ihn geradezu, das Verbot zu überschreiten. Diesen Mechanismus nennt man „Ambivalenz“, er bedeutet, das ein Phänomen gleichzeitig zwei entgegengesetzte Bedeutungen für das Individuum hat: faszinierend, anziehend(= 'gut') und abstoßend, angsterregend(= 'böse'). Weil beides gleichzeitig wirkt, ist es schwierig, damit umzugehen. Es kommt zu zwei weiteren psychischen miteinander verbundenen Prozessen, zu Spaltung und Projektion, und zwar derart, dass das negative, abstoßende Moment abgespalten und nach außen, in der Regel auf etwas Fremdes, projiziert wird. Was uns an uns selbst nicht passt, auch unsere verpönten Wünsche, projizieren wir auf bestimmte Personen oder Gruppen und entwerten und bestrafen diese auf exemplarische Weise. Erdheim 2013, S. 20

Die Strafe habe also auch für den Strafenden eine Funktion, und zwar dergestalt, das eigene Begehren, die verbotene Handlung zu vollziehen, abzuspalten und auf jemand anderen zu projizieren. Diese Projektion führe dann zu einer psychischen Entlastung, die dem Individuum wieder das Gefühl gibt mit sich selbst und seiner Umwelt im Einklang zu stehen. Diese Entlastung gibt ihm das Gefühl, etwas legitimes und richtiges zu tun - das Strafen erzeugt also in gewisser Weise Lust oder Befriedigung im Strafenden.

Und dennoch ist mit diesem Mechanismus der Abspaltung und Projektion auch ein Problem verbunden: Damit die Abspaltung und die Projektion erfolgreich ist, muss die oder müssen diejenigen Personen, auf die projeziert wird, vom Strafenden als von ihm essentiell unterschiedlich wahrgenommen werden. Damit die Strafe legitim und angemessen ist, muss der Bestrafte als „böse“ oder „moralisch verwerflich“ bewertet werden, er muss in gewisser Weise als Antagonist der eigenen Rechtschaffenheit herhalten. (vgl.Erdheim 2013, S. 23)

Damit ist der Logik des Strafens auch eine Logik des nicht-verstehen-könnens oder präziser formuliert nicht-verstehen-dürfens des Bestraften immanent. Denn würde der Strafende zugeben, dass er die Beweggründe des Bestraften für die verbotene Tat versteht oder gar teilt, würde dies die Bestrafung delegitimieren und den Zweck der Abspaltung und Projektion für den Bestrafenden aufheben. Aus dieser Perspektive steht die Strafe der Hilfe im Sinne eines „Verstehens“ und „Unterstützens“ des Klienten diametral gegenüber. (vgl. Erdheim 2013, S. 28)

Das Spannungverhältnis zwischen Hilfe und Sanktion in der Wahrnehmung von Sozialpädagog*innen

Lassen sich die im Fachdiskurs dargestellten Problematiken des durch das „Doppelte Mandat“ hervorgerufenen Spannungsverhältnisses zwischen Hilfe und Sanktion auch in der Wahrnehmung der in der Sozialen Arbeit tätigen Sozialpädagog*innen wiederfinden? Empfinden sie die Anforderungen, die durch ihre doppelte Verpflichtung gegenüber den Klienten einerseits und der Gesellschaft andererseits an sie gestellt werden, als so belastend und konflikthaft, wie sie im Fachdiskurs dargestellt werden? Ist das „Soziale-Probleme-Deutungsmuster“ vorherrschend, oder machen die Sozialpädagog*innen allein die Klienten für das beobachtete abweichende Verhalten verantwortlich? Finden sich Anzeichen für die beschriebenen Mechanismen der Abspaltung und Projektion?

Anhand von zwei Interviews mit Sozialpädagoginnen, die in der Sozialen Arbeit tätig sind, werden diese Fragen im Folgenden exemplarisch beantwortet. Das erste Interview wurde geführt mit einer Mitarbeiterin in der Wohnungslosenhilfe. Das zweite Interview wurde geführt mit einer Mitarbeiterin eines Jugendamts.

Interview mit einer Mitarbeiterin in der Wohnungslosenhilfe

Also auch die Probleme mit denen ich konfrontiert werde, wiederholen sich ständig, kommen immer wieder… Und früher haben wir dann schon öfters auch dann jemand ablehnen können, weil halt einfach die Nachfrage groß genug war, Jetzt inzwischen wo es mit der Belegung nicht mehr so gut funktioniert, ist es schon so, dass man halt auch mal Leute nimmt, die man lieber nicht nehmen würde. Also einfach, also zum Beispiel grad mit der Drogenproblematik im Haus, das ist ein großes Problem… Zeile 26-31

In diesem Zitat stellt die Sprecherin zunächst dar, dass viele ihrer Klienten mit ähnlichen Problemen konfrontiert sind, die ihr immer wieder begegnen. Die dabei verwendeten Wörter „ständig“ und „immer“ vermitteln den Eindruck, dass diese Tatsache von ihr nicht begrüßt wird, das es sie vielleicht nervt oder langweilt oder dass sie mit bestimmten Problemen nicht (mehr?) konfrontiert werden will. Sie äußert das Bedürfnis, bestimmte Klienten ablehnen zu können, was aber durch geänderte Rahmenbedingungen im Gegensatz zu einem unbestimmten „früher“ nicht mehr möglich ist. Auffällig ist dabei der plötzliche Wechsel des Personalpronomen von „wir“ (… haben ablehnen können) zu „man“ (…lieber nicht nehmen würde). Durch dieses „man“ wirkt die darauf folgende Aussage zum einen distanzierter, weil dieses „man“ sie selbst nicht zwingend mit einbeziehen muss. Zum anderen impliziert es jedoch auch, das die Aussage keine subjektive Meinung darstellt, sondern interpersonelle Gültigkeit besitzt: „dass man halt auch mal Leute aufnimmt, die man lieber nicht nehmen würde“ wirkt so, als würde niemand diese Leute gerne aufnehmen wollen.

Diese Formulierung scheint darauf hinzuweisen, dass sie bei bestimmten Menschen mit bestimmten Problemen (z.B. Drogensucht) die Ursachen eher in der Persönlichkeit der Betroffenen Menschen sieht, als darin, das sie in einer problematischen sozialen Lage sind. Hier scheint also die zuvor dargestellte Einschätzung, das dass Soziale-Probleme-Deutungsmuster nicht mehr das einzig dominante Paradigma in der Praxis der Sozialen Arbeit darstellt, auf die Sprecherin zuzutreffen.

Also mir fällt um Beispiel auf […]dass eigentlich die meisten immer wieder so aus kaputten Familien kommen ziemlich viel durchgemacht haben in der Familie, Vater oder Mutter Alkoholiker, geschieden adoptiert, im Heim aufgewachsen und dann halt, so ein bestimmter Punkt wird dann erreicht und dann geht's halt nicht mehr weiter. Wo sie sich dann halt auch nicht mehr zu helfen wissen und dann halt irgendwo auch also unter Umständen dann halt auch bei uns landen… Zeile 32-38

Gleich darauf scheint sie diese Aussage jedoch wieder relativieren zu wollen, indem sie auf die anscheinend immer wieder in ähnlicher Weise auftauchenden, ähnlich verlaufenden Biographien ihrer Klienten verweist. Hier wiederum ist das Soziale-Probleme-Deutungsmuster sehr deutlich zu erkennen. Sie sucht die Ursachen für das Schicksal ihrer Klienten in ihren ungünstigen Lebensumständen, und nicht in ihrem Verhalten oder ihrem Charakter.

Aber auf der anderen Seite, wenn dann halt immer wieder so Konflikte auftauchen und die halt immer wieder kommen. Dann denke ich dann manchmal, also jetzt ist doch gut, das muss man doch kapieren. Also gerade wenn es nur, jetzt gerade mit diesen Ruhestörungen oder so, denke ich dann immer, meine Güte, also wenn man dann in zwei Wochen zehnmal ermahnt wird, dann muss man es doch irgendwann einfach so diese Gleichgültigkeit zum Teil auch… Zeile 61-66

Hier scheint die Sprecherin die Gründe für das Auftreten von wiederkehrenden Konflikten wieder in der Persönlichkeit der Delinquenten zu suchen. Sie unterstellt ihren Klienten Gleichgültigkeit, weil sie auf die Sanktionen der Fachkräfte (Ermahnungen) nicht so reagieren, wie sie es sich von ihnen erwartet. Sie kann oder will dafür kein Verständnis aufbringen.

… Was halt immer wieder […] also was halt immer wieder kommt, was auch so im Team ist, also es ist halt oft so, man muss sanktionieren, man bevormundet, man gibt Aufträge, man kontrolliert, man macht, man tut, also man spielt den Harten und hat die Macht und dann aber so letztendlich, wenn es dann drauf ankommt, ist es dann immer so. Also jetzt auch im Team immer wieder aufgetaucht, ja dann doch: „ich habe ein weiches Herz“ und; also dass man halt dann so letztlich diese, ja dieses Verständnis oder diese Nähe oder auch dieses zum Teil halt auch schon auch, ja Mitleid. Einfach wenn man sieht, was die schon alles durchgemacht haben. Also ich denke so, das ist das so, was am Anfang eigentlich geleitet hat. Also ich denke um Laufe der Jahre ändert sich das schon, aber so, ich denke so das war dieser Usprung. So dieses, also auch, also ich persönlich habe das ja immer massiv abgelehnt, zu sagen, so dieses Helfen-wollen. Also das, also für mich war es einfach so immer so Spaß im Umgang mit den Leuten. Das war schon immer und dann halt so dieses, also, viele Informationen oder Sachen, die man einfach weiß und das halt einfach weitergeben kann und dann halt auch damit wieder was Neues ermöglichen… also ich merke schon, dass ich mich da halt auch versuche zu distanzieren und dann halt schon much so auf so dieses Beratende zurückzuziehen. So außenstehend, mich nicht mehr drauf einlassen und dann so diese beratende Funktion. Zeile 142-158

In diesem Zitat findet sich die Ambivalenz, die mit der Sanktion verbunden ist, in vielen Formulierungen wieder. „Man muss sanktionieren, man bevormundet, man gibt Aufträge, man kontrolliert“. Gleich zu Beginn dieses Abschnitts fällt auf, dass das Subjekt der Handlung plötzlich vom persönlichen „Ich“ zu einem unpersönlichen „Man“ wechselt. Statt eines die Sprecherin eindeutig einbeziehendes „Ich“ bzw. „Wir“ wird das Subjekt der beschriebenen Handlungen zu einem unbestimmten „Man“.

Diese Formulierung wirkt wie eine sprachliche Distanzierung der Sprecherin von der Tätigkeit des Sanktionierens, Bevormundens, Anweisens und Kontrollierens. Verstärkt wird dieser Eindruck des Verb „muss“: „Man muss sanktionieren…“ Dadurch wird der Eindruck vermittelt, dass die Verantwortung für diese Tätigkeiten außerhalb der Handelnden liegen, das sie keine Wahl haben, ob sie sanktionieren oder nicht. Auch wenn im weiteren Verlauf der Aussage nicht weiter darauf eingegangen wird, bei wem sonst die Verantwortung für die Sanktion liegt, werden die Sanktionen damit als „Pflicht“ der Sanktionierenden dargestellt, die außerhalb ihrer Entscheidungsmacht steht. Jedoch wird diese Zurückweisung von Verantwortung im weiteren Verlauf des Satzes durch die Formulierung „man spielt den Harten und hat die Macht“ wieder relativiert.

Insgesamt bekommt man durch diese sprachliche Distanzierung den Eindruck, dass der Sprecherin das Sanktionieren eher unangenehm ist und schwer fällt, das sie sich davon eher abgrenzen will. Eine „Abspaltung und Projektion“ die eine psychische Entlastung für die Strafende darstellt und ein positiv konnotiertes „Wir“ konstruiert, scheint hier also durch die Strafe nicht vollständig zu gelingen.

Die Sprecherin gibt im nächsten Satz einen Hinweis darauf, woran dies liegen könnte: „ja dieses Verständnis oder diese Nähe oder […] ja Mitleid.“ Sie scheint also Verständnis für die Beweggründe für das abweichende Verhalten zu entwickeln. Sie versucht also sich in die abweichenden Individuen hinein zu versetzen und sie zu verstehen. Sie identifiziert sie also als mit sich selbst ähnlich und weißt ihnen keinen Platz „außerhalb“ der Gesellschaft zu.

Der nächste Satz: „Einfach wenn man sieht, was die schon alles mitgemacht haben.“ verweist darauf, dass sie das Verhalten ihrer Klienten eher nach dem „Soziale-Probleme-Deutungsmuster“ beurteilt. Sie erklärt sich das abweichende Verhalten ihrer Klienten damit, dass sie in der Gesellschaft schlechte Erfahrungen gemacht haben, und nicht damit, das sie „böse“ sind.

Daran anschließend verweist sie dann darauf, was sie eher als das Sanktionieren als ihre Aufgabe sieht: „Also ich denke so, das ist das so, was am Anfang eigentlich geleitet hat. […] so dieses Helfen-wollen.“ Hier wird das Helfen als präferierte Alternative zum Sanktionieren dargestellt. Der Sprecherin scheint das Spannungsverhältnis zwischen Hilfe und Sanktion also bewusst zu sein, und wenn sie sich entscheiden muss, hilft sie lieber statt zu sanktionieren. Sie scheint sich selbst mehr ihren Klienten als der Gesellschaft gegenüber verpflichtet zu fühlen.

Interview mit einer Mitarbeiterin im Jugendamt

Und ich mache es eben methodisch so, dass ich auch eben wirklich bewusst sage, was meine Aufgaben sind. Welche Möglichkeiten der Beratung ich dem Klienten, der Klientin anbieten kann. Und dann kann er entscheiden, ja? Oder sie entscheiden, welche Hilfe sie braucht. Ich denke wir machen wirklich so eine psychosoziale Grundversorgung an Beratung… Also ich denke, dass wir im ASD ziemlich flächendeckende Information über Angebote in unseren Stadtteilen haben, weil wir auch ständig in Kooperation mit allen im Stadtteil integrierten Diensten sind. Sei es jetzt im Rahmen der Kinderbetreuung oder der Altenhilfe oder in Kooperation mit dem sozialpsychiatrischen Dienst, ja? […] Also es wird nicht etwas für einen Klienten gemacht, sondern mit ihm und man geht mit ihm diesen Weg. Man nimmt ihn da an, wo er steht und schaut: Kann er es annehmen; wie geht es weiter. Ja? Zeile 435-453

Die Sprecherin betont in diesem Abschnitt die beratenden und Hilfestellung bietenden Aspekte ihrer Tätigkeit. Sie weist darauf hin, dass sie bei der Kontaktaufnahme mit den Klienten zunächst darüber aufklärt, was ihre Aufgaben sind. Durch die Wörter „methodisch“ und „bewusst“ scheint sie betonen zu wollen, das ihre Herangehensweise dabei sehr planvoll und durchdacht ist. Ihr scheint dabei auch sehr daran gelegen zu sein, eine professionelle Distanz zu wahren, was dadurch zum Ausdruck kommt, dass sie von „dem Klienten, der Klientin“ spricht. Sie stellt heraus, das sie einen großen Überblick („flächendeckende Informationen“) über lokale Hilfs- und Beratungsangebote haben - und das sie mit diesem im „ständig[en]“ Austausch stehen, den sie in zwei aufeinanderfolgenden Sätzen als „Kooperation“ beschreibt, was auf ein Arbeiten „auf Augenhöhe“ hinweist, und weniger auf ein Verhältnis von Abhängigkeit und Weisungsbefugnis zwischen dem Jugendamt und den in den Stadtteilen verorteten Angeboten. Darüber hinaus will sie deutlich machen, dass in dieser Situation die Klienten selbst bestimmen können, welche der angebotenen Beratungen und Hilfestellungen sie in Anspruch nehmen wollen. Diese Betonung der freien Entscheidung der Klienten spitzt sie zu mit der prägnanten Beschreibung „Also es wird nicht etwas für einen Klienten gemacht, sondern mit ihm und man geht mit ihm diesen Weg. Man nimmt ihn da an, wo er steht und schaut: Kann er es annehmen; wie geht es weiter.“ Hier wird deutlich, das für sie die Klientenzentrierung einen hohen Stellenwert besitzt, dass es ihr sehr wichtig zu sein scheint, nichts gegen den Willen ihrer Klienten zu veranlassen und durchzusetzen.

Es gibt allerdings auch gewisse Grenzen. Und das ist dann so dieser dritte Bereich, der eigentlich sehr stark dem Jugendamt zugeordnet wird. Und zwar eben dieses Wächteramt des Jugendamtes. Und ich denke, das ist also etwas ganz Spezifisches. Und ich denke, da sind wir dann eben auch in dieser Kontrollfrage ganz stark gefragt… Dass ich mir manchmal allerdings (…) wo ich Grenzen auch sehe ist, wenn wir es mit Kindesmisshandlung zu tun haben. (…) Und wir auf Grund der Gesetzesgrundlage dann abwägen müssen: Ist die Gefährdung so groß, dass wir dann wieder handeln müssen? Also weg von der Beratung hin wirklich zur Eingriffsbehörde in Form von einer Inobhutnahme des Kindes. Und ich denke, das sind diese beiden, dieses Spannungsfeld, in dem wir manchmal sind. Dass wir Familien ziemlich lange kennen, auch in einem Beratungsprozess, der auf relativ freiwilliger Basis läuft, und wo es dann einfach irgend so etwas dann ist. Ja? Wir dann aber eindeutig Postion beziehen können, müssen müssen. Weil es beide Bereiche gibt. […] Also alltäglich sind tatsächlich nicht diese akuten Krisensituationen, ich denke, wir haben, wenn wir im dauerhaften, also im kontinuierlichen Kontakt mit Familien stehen, sehr oft vorher die Möglichkeit, so eine Krise schon etwas zu entschärfen und Lösungsmöglichkeiten mit den Eltern und den Kindern zu erarbeiten. Oder mit den alleinstehenden Menschen. Zeile 453-473

Hier kommt die JM explizit auf das Spannungsverhältnis zwischen Hilfsangeboten einerseits und der Verantwortung zur Kontrolle und ggf. Sanktionen andererseits zu sprechen. Während sie zuvor den unterstützenden, beratenden, helfenden Aspekt ihrer Tätigkeit in den Fokus rückt, kommt sie nun darauf zu sprechen, dass das Jugendamt auch ein „Wächteramt“ zu erfüllen hat, wenn der Verdacht besteht, das es zu Kindesmisshandlungen oder ähnlichem kommt. Hier besteht für das Jugendamt die Möglichkeit, auch gegen den Willen der Klienten Maßnahmen zu ergreifen. Die JM benutzt hier als Beispiel den juristischen Fachterminus der „Inobhutnahme“. Diese Wortwahl lässt vermuten, das die JM diesen Aspekt ihrer Tätigkeit als eher unangenehm empfindet, den sie zu objektivieren versucht, indem sie einen möglichst neutral besetzten Begriff verwendet. Auch wenn sie ihn als „ganz spezifisch“ für das Jugendamt kennzeichnet, scheint es, als versuche sie, diesen Aspekt gleich darauf wieder zu relativieren, indem sie darauf verweist, das solche „akuten Krisensituationen“ nicht alltäglich sind, und dass solche Situationen in der Regel vermieden werden können, wenn das Jugendamt mit den betroffenen Familien schon vorher in kontinuierlichem Kontakt stehen. Sie lenkt den Fokus also sogleich wieder auf Tätigkeiten, die sie positiver besetzt, etwa das „Erarbeiten von Lösungsmöglichkeiten“ mit den Eltern und Kindern gemeinsam. Auch scheint es ihr wichtig zu sein, zu betonen, das solche Maßnahmen sorgfältig abgewogen werden und anhand der Gesetzesgrundlage entschieden werden. Man bekommt den Eindruck, dass sie diesen Aspekt ihrer Tätigkeit eher als „notwendiges Übel“ denn als bereichernde Aufgabe empfindet.

Also für mich ist ein Erfolg, wenn ich in einem Beratungsprozess merke, dass sich an den vorhandene Beziehungsmustern, die bei Klienten vorliegen, irgendetwas verändert hat, dass etwas in Bewegung gekommen ist. Ich denke, die Klienten tragen immer dafür Verantwortung, ob sie etwas verändern wollen, was sie verändern wollen. Für mich ist es ein Erfolg, wenn ich da einen Impuls gegeben haben kann. Zeile 645-649

In diesem Zitat wird deutlich, dass die Sprecherin, trotz ihres Bemühens, die Perspektive ihrer Klienten zu berücksichtigen, die Gründe für Probleme und abweichendes Verhalten hauptsächlich in den Klienten selbst sieht, in ihren „Beziehungsmustern“ und ihrem „Willen zur Veränderung“. Sie spricht ihnen explizit die Verantwortung für ihre persönliche Situation und damit verbundenen Problemlagen zu. Das „Soziale-Probleme-Deutungsmuster“ scheint für sie an dieser Stelle keine Relevanz zu haben, sie möchte individuelles Verhalten ändern, um die Probleme ihrer Klienten zu lösen, ohne danach zu fragen, ob ggf. gesellschaftlich und sozial benachteiligende Umstände vorliegen, die die Probleme ihrer Klienten auch beeinflussen oder gar auslösen. „Hilfe“ wird von ihr also weniger als „Hilfe die eigene soziale Lage zu verbessern“ gesehen, und mehr als „Hilfe, defizitäre Verhaltensweisen und Beziehungsmuster zu verbessern“.

Fazit

Es ist deutlich geworden, dass ein Spannungsverhältnis zwischen „Hilfe“ und „Sanktion“ nicht nur in der theoretischen Auseinandersetzung mit den Aufgaben der Sozialen Arbeit besteht, sondern das dieses Spannungsverhältnis auch in der täglichen Arbeit der Sozialarbeiter*innen diese immer wieder beschäftigt. Die interviewten Pädagoginnen verstehen sich - genau wie dies in der Fachliteratur auch beschrieben wurde - in erster Linie als Helferinnen, Beraterinnen und Unterstützerinnen ihrer Klienten. Ihnen scheint die Aufgabe und Möglichkeit der Kontrolle und Sanktion eher unangenehm zu sein, sie wird eher als notwendiges Übel beschrieben denn als willkommene Methode, pädagogisch zu wirken.

Wie in der betrachteten Literatur beschrieben, ist das „Soziale-Probleme-Deutungsmuster“ nicht das dominante Erklärungsmuster, mit dem sich die interviewten Pädagoginnen das abweichende Verhalten ihrer Klienten erklären. Zwar wird es - zumindest von der Pädagogin in der Wohnungslosenhilfe - nicht ganz außer Acht gelassen, doch überwiegend werden von beiden Pädagoginnen Erklärungsmuster herangezogen, die die Gründe dafür in Einstellungen, Beziehungsmustern und Persönlichkeitmerkmalen der Klienten sehen. Sie weisen die Verantwortung für die Probleme also eher den Klienten selbst zu, statt sie in sozialen Benachteiligungen durch die Gesellschaft zu suchen.

Die teilweise recht pauschale Zuschreibung von (alleiniger) Verantwortung könnte tatsächlich darauf hinweisen, das hier seitens der Pädagoginnen eine Abspaltung und Projektion im Sinne des in Kapitel 2.2. beschriebenen Prozesses stattfindet.

Die Analyse von zwei Interviews lässt natürlich wenig Rückschlüsse darauf zu, ob solche Prozesse in der Sozialen Arbeit weit verbreitet sind. Erste quantitative Erhebungen, unter anderem von Mohr/Ziegler 2012, legen jedoch den Verdacht nahe, dass es zu diesen Zuschreibungen nicht nur vereinzelt kommt.

Sollte sich dieser Verdacht durch weitere empirische Studien erhärten, könnte dies zum Anlass genommen werden, in der pädagogischen Ausbildung einen stärkeren Fokus auf die Vermittlung von soziologischen Ursachen und Folgen sozialer Unterschiede und die Vermittlung von Grundlagen (sozial-)psychologischer Prozesse - wie etwa dem der beschriebenen „Abspaltung und Projektion“ - zu legen.

/hp/ag/af/zd/www/data/pages/offen/nutzer/benjamin_bettinger/werke/hilfe_vs_strafe.txt · Zuletzt geändert: 2021/09/28 15:02 von benni