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Soziale Unruhen in England und das britische Bildungssystem

Einleitung

England erlebte im August 2011 die größten sozialen Unruhen seit über 25 Jahren. Vier Tage lang wurde in mehreren englischen Großstädten geraubt und es wurden Brände gelegt, bei denen hunderte Menschen verletzt und geschädigt wurden, es kam sogar zu einigen Todesfällen. Bei der Suche nach den Ursachen für diese Unruhen sollte auch die Betrachtung des englischen Schulsystems in die Analyse einbezogen werden. Das auf „Elitenbildung“ ausgerichtete englische Schulsystem könnte sowohl in Teilen die Ursache der Unruhen sein, als auch Möglichkeiten zur Lösung dieses Problems bieten.

Um eine Antwort auf diese Fragen zu geben, ist es notwendig, sich zunächst einen Überblick darüber zu verschaffen, was genau bei diesen Unruhen passiert ist und wer daran beteiligt war. Danach werden zur Beurteilung des Geschehens ausgewählte Stellungnahmen von Politikern, Journalisten und Wissenschaftlern dargestellt. In einem nächsten Schritt werden ausgewählte statistische Daten zum Thema Arbeitslosigkeit und Armut in England herangezogen und mit entsprechenden Daten Deutschlands verglichen. Zuletzt wird aus dieser Betrachtung heraus eine Einschätzung gegeben, welche Rolle das Bildungssystem Englands für diese sozialen Unruhen gespielt haben könnte, und welche Konsequenzen daraus ggf. zu ziehen sind.

Soziale Unruhen in England: was ist passiert?

Im Zeitraum vom 6.-10. August 2011 kam es, ausgehend von London, in mehreren englischen Städten zu gewaltsamen Ausschreitungen. Im Rahmen dieser Ausschreitungen entstand ein bisher noch nicht genau bezifferter Sachschaden, die bisher dazu angestellten Schätzungen reichen von 10 Millionen bis zu 200 Millionen Pfund Sterling. Darüber hinaus sind im Verlauf der Ausschreitungen vier Menschen ums Leben gekommen. Als Ausgangspunkt der Unruhen gilt eine friedliche Demonstration einiger Hundert Personen im Londoner Stadtteil Tottenham am 6. August. Diese Demonstration hatte das Ziel von der Polizei Informationen über den Tod des 29-Jährigen Mark Duggan zu bekommen, der bei einer Polizeirazzia am 4. August erschossen wurde. Aus bisher nicht offiziell geklärten Gründen eskalierte die Situation im Anschluss an die Demonstration dann in den Abendstunden dahingehend, dass es im Stadtteil Tottenham zu Brandanschlägen auf Polizeifahrzeuge, Gebäude und einen leeren Doppeldeckerbus, sowie zu Plünderungen von Geschäften kam.

In der darauf folgenden Nacht kam es in verschiedenen ärmeren Stadtteilen Londons zu ähnlichen Ausschreitungen. Ab dem 8. August breiteten sich die Unruhen auch in englischen Städten außerhalb Londons aus, unter anderem in den Städten Leeds, Birmingham, Nottingham, Bristol und Liverpool.

Am letzten Tag der Unruhen – genauer gesagt in der Nacht vom 10. auf den 11. August – breiteten sich die Plünderungen und Brandstiftungen auch auf die Innenstadt Londons aus, bevor die Polizei die Situation ab dem 11. August wieder in den Griff bekamen.

Medienberichten zu Folge fiel es der Polizei insbesondere deswegen schwer die Situation in den Griff zu bekommen, weil sich die überwiegend jugendlichen Täter über Social Networks wie etwa Facebook oder Twitter sowie über das Mobilfunknetz organisierten und koordinierten.

Beurteilung im öffentlichen Diskurs: Was sagen Politiker, Medien und Wissenschaftler zu den mutmaßlichen Ursachen der Ausschreitungen in England?

Die im entsprechenden Zeitraum in der Regierungsverantwortung stehenden Politiker, wie etwa Premierminister Johnson, beurteilten die Situation relativ simpel: Die Täter waren nach seiner Auffassung schlicht Kriminelle, die Ursache für die über Tage hinweg andauernden Ausschreitungen sah er darin, dass die Polizei nicht hart genug gegen diese Kriminellen vorgegangen sei. Teile der konservativen Partei und der Medien forderten aus dieser Position heraus sogar den Einsatz des Militärs zur Niederschlagung der Aufstände.

Die politische Opposition, Sozialwissenschaftler und andere Teile der Medien sahen in den Aufständen eine Reaktion auf die - durch die konservative Regierung durchgesetzten - Kürzungen im Bildungs- und Sozialsystem Englands. Saskia Sassen, eine US-amerikanische Soziologin und Wirtschaftswissenschaftlerin beispielsweise, kritisierte die Reaktion Camerons als „Sprache der Tyrannei“, die politischen Führer sprächen „zu ihren Untertanen, als wären sie kleine Kinder. Sie würden behandelt, als würden ihre Worte nicht zählen, als würde ihre Sprache nicht existieren“.1) Sie nahm gemeinsam mit ihrem Ehemann Richard Sennett das Geschehen zum Anlass, die prekären Lebens- und Beschäftigungsverhältnisse der englischen Unterschicht näher zu beleuchten und nach möglichen Ursachen für die gewalttätigen Ausbrüche zu durchsuchen, 2) da die Ausschreitungen augenscheinlich von männlichen Jugendlichen dieser Gesellschaftsschicht getragen wurden.

Sie kommen zu dem Ergebnis, dass die Ereignisse auf zwei gesellschaftliche Ursachen zurück zu führen sind. Zum einen die in der britischen Gesellschaft vorherrschende große soziale Ungleichheit die im nachfolgenden Kapitel näher beleuchten wird. Zum anderen sehen Sassen und Sennett die Ursache im radikalen Sparkurs der Regierung Cameron's, die zur Folge hatte, dass zum einen massive Stellenkürzungen bei der englischen Polizei vorgenommen wurden, zum anderen diverse Sozialleistungen zusammengestrichen wurden, was wiederum dazu führte, dass beispielsweise Gesundheitszentren, Bibliotheken und soziokulturelle Zentren in den armen Vierteln der Großstädte geschossen werden mussten, was vor allem zu Lasten der Armen gegangen sei. So hätten insbesondere jene perspektivlosen, arbeitslosen Jugendlichen keinen anderen Anlaufpunkt als die Straße gehabt, was dazu führte, dass sie sich von der Zivilgesellschaft im Stich gelassen gefühlt hätten.

In einem anderen Artikel bringt Sassen die Aufstände in einen Zusammenhang mit den Aufständen in amerikanischen Ghettos in den '60er und 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts sowie den Aufständen in Pariser Vororten in den Jahren 2005 und 2008. Basierend auf einer Studie der französischen Kriminologin Sophie Body-Gendrot bezeichnet sie solche Aufstände als „one of the few options for the disadvantaged in big cities, especially in the West.“3) Sie seien eine der wenigen Ausdrucksformen die solchen Gruppen in westlichen Demokratien hätten, weil ihnen ansonsten von der Politik keine Beachtung geschenkt würde.

Großbritannien in Zahlen – wie viele sind Arbeitslos und ohne Aubildung?

Zur Mitte des Jahres 2010 waren in England insgesamt 5,9 Millionen Menschen arbeitslos oder geringfügig beschäftigt. Die Arbeitslosenquote der 16- 24 Jährigen betrug 19,6 % und ist damit dreimal höher als bei allen anderen Altersklassen.

Um das britische Schulsystem mit dem „General Certificate of Secondary Education“ (GCSE) zu verlassen, der mit dem deutschen Realschulabschluss verglichen werden kann, muss man mindestens fünf Abschlussprüfungen in beliebigen Schulfächern bestehen. Jährlich erreichen ca. 50.000 bis 70.000 Menschen dieses ziel nicht und verlassen das Schulsystem ohne formalen Bildungsabschluss.

In der Statistik der europäischen Union gelten Menschen als in „relativer“ Armut lebend, wenn ihr Einkommen weniger als 60% des Medians der Gesamtanzahl der statistisch erfassten Haushalte beträgt. Für England bedeutet dies, dass einem allein lebenden Menschen weniger als 119 Pfund monatlich, einer Familie mit zwei Kinder weniger als 288 Pfund monatlich zur Verfügung stehen muss, um in diese Kategorie eingeordnet zu werden. Nach dieser Definition leben in England 13,1 Millionen Menschen in Armut. Als in „tiefer Armut“ lebend werden Haushalte eingestuft, deren monatliches Einkommen weniger als 40% des Medians beträgt. Dieser Fall trifft auf 44% aller in England in Armut lebenden Menschen zu. Unter den 13,1 Millionen Menschen, die in England in Armut leben, sind knapp 4 Millionen Kinder.

Zum Vergleich: Deutschland in Zahlen

In Deutschland gelten zur Zeit ca. 3,2 Millionen Menschen offiziell als arbeitslos. Anzumerken ist hier jedoch, dass diese Zahl sich mit den Zahlen Englands nur bedingt vergleichen lässt, da in Deutschland all jene Menschen, die in Qualifizierungsmaßnahmen der Arbeitsagentur sowie den sogenannten „1-Euro-Jobs“ beschäftigt sind, nicht in die offizielle Arbeitslosenstatistik eingerechnet werden. Ebenso aus der offiziellen Statistik heraus fallen Menschen, die von privaten Arbeitsvermittlern betreut werden, anstatt von der Bundesagentur für Arbeit. Die tatsächliche Arbeitslosenquote kann also deutlich höher angenommen werden.

Die Arbeitslosenquote unter Jugendlichen fällt im Vergleich mit England relativ gering aus: hier sind ca. 430.000 junge Menschen im Alter von 15-24 Jahren erwerbslos, was einer Quote von 9,1 Prozent entspricht und damit deutlich unter der Quote Englands mit 19,6 Prozent liegt. Der Anteil der Erwerbslosen an der bundesdeutschen Gesamtbevölkerung liegt bei 6,1 Prozent – damit sind auch in Deutschland junge Erwachsene überdurchschnittlich von Arbeitslosigkeit bedroht, allerdings fällt diese überdurchschnittliche Bedrohung deutlich geringer aus als in England.4)

In Deutschland haben im Jahr 2010 58.400 Schüler die Schule ohne Hauptschulabschluss verlassen. Das entspricht etwa einem Anteil von 7 Prozent der entsprechenden Alterskohorte. Dieser Anteil schwankt in erheblichem Maße in Abhängigkeit vom Bundesland – er schwankt zwischen 5,7 Prozent in Baden-Württemberg und 14,1 Prozent in Mecklenburg-Vorpommern. Die neuen Bundesländer liegen in dieser Statistik deutlich über dem Durchschnitt.5)

In Deutschland leben ca 15,5 Prozent der Bevölkerung in relativer Armut. Dieser Anteil liegt bei den 13-25 jährigen Menschen bei knapp 25 Prozent. Damit lebt - verglichen mit allen anderen Altersgruppen – ein deutlich höherer Anteil dieser Altersgruppe in relativer Armut.

Fazit: Das Ausbildungssystem und seine Rolle für den sozialen Frieden

Die Bildungssysteme der westlichen Industrienationen erfüllen unterschiedliche Funktionen: Neben der Funktion als primäre Sozialisations- und Bildungsinstanz fungieren sie maßgeblich als gesellschaftliche Selektionsinstanz, d.h. als Instrument zur Zuteilung und Legitimation gesellschaftlicher Positionen. Das Bildungssystem produziert und legitimiert gesellschaftliche Unterschiede, verteilt Zugangschancen zu bestimmten Tätigkeitsfeldern und gesellschaftlichen Ressourcen. Oder konkreter benannt: Es produziert gesellschaftliche Eliten ebenso, wie es eine gesellschaftliche Mittelschicht und eine gesellschaftliche Unterschicht produziert. Das Bildungssystem für sich hat nur sehr geringen direkten Einfluss darauf, wie und in welchem Maße die durch es vorgenommene Selektion, die durch es verteilten Chancen, sich auf das Leben der Menschen auswirkt. Dafür sind andere gesellschaftliche Subsysteme wie etwa die Sphären der Politik und der Ökonomie viel maßgeblicher.

Dennoch muss auch das Ausbildungssystem darauf reagieren, wenn es zu solch massiven Ausschreitungen kommt, wie es in England im August 2011 geschehen ist.

Soziologen wie etwa Saskia Sassen sehen als eine maßgebliche Ursache für diese Ausschreitungen die Perspektivlosigkeit einer arbeitslosen, in Armut lebenden Unterschicht, die in dieser Alterskohorte etwa 20 Prozent ausmacht. Das Bildungssystem kann nicht dafür verantwortlich gemacht werden, dass eine Regierung Sozialausgaben kürzt oder dass es in der Wirtschaft zu wenig Chancen für niedrig qualifizierte Jugendliche gibt. Wohl aber kann und muss in Frage gestellt werden, ob ein Bildungssystem aus Sicht der britischen Gesellschaft noch adäquat die an es gestellten Anforderungen erfüllt, wenn 20 Prozent einer Generation, die dieses System durchlaufen haben, nicht in den gesellschaftlichen Reproduktionsprozess integrierbar sind. Unter dem Eindruck der massiven Ausschreitungen in England muss bei der Betrachtung des englischen Bildungssystems also auch die Frage gestellt werden: „Wie konnte es passieren, dass das britische Bildungssystem einen so hohen Anteil nicht in den Reproduktionsprozess integrierbarer Jugendlicher produziert hat?“

/hp/ag/af/zd/www/data/pages/offen/nutzer/benjamin_bettinger/werke/london_riots_2011.txt · Zuletzt geändert: 2020/04/30 19:13 von benni